JOMO statt FOMO – Joy (not fear) of missing out. THEORIE-CAFÉ #9: DINGE ZUM VERSCHWINDEN

»How do people disappear in an age of total over-visibility?
Which huge institutional and legal effort has to be made to keep things unspoken and unspeakable even if they are pretty obviously sitting right in front of everyone’s eyes?
Are people hidden by too many images? Do they go hide amongst other images?
Do they become images?«

Hito Steyerl: I Dreamed a Dream: Politics in the Age of Mass Art Production, Vortrag im Haus der Kulturen der Welt, 2013

Was bisher geschah

Das Theorie-Café feierte im letzten Jahr im Rahmen von Theater der Dinge 2020: Künstliche Körper Premiere und machte im Anschluss im monatlichen Rhythmus die Lockdown-Zeit erträglicher, indem wir im Online-Format über Objekte und Körper anhand verschiedener Unterthemen nachdachten – zum Beispiel in Bezug auf Trost, Spiritualität, Gender, Scham, … um nur einige Foki zu nennen.

Einer festen Dramaturgie folgend, leiten wir dazu selbst ausgedachte Embodiment-Übungen an, um das Thema leiblich erfahrbar zu machen; lassen in der Vorstellungsrunde die Teilnehmenden sich und ihre privaten Objekte vorstellen, die sie mit dem Thema verbinden; teilen Texte und Bilder zur Inspiration und anschließenden Diskussion in gemütlich-anregender Atmosphäre.

Diese Form des Austauschs war im letzten Jahr für uns ganz besonders berührend, weil es gelang, sich mit Fremden, Halbbekannten oder Freund*innen Zeit zu nehmen, um gemeinsam über das nachzudenken, was uns beschäftigt und dabei den Reichtum wahrzunehmen, der uns anhand der vielen Materialien und Dinge umgibt, die wir sonst für so selbstverständlich und alltäglich halten.

Bestenfalls haben die Theorie-Cafés zu konkreten Handlungen geführt: Es sind erste kleine Skizzen für Figurentheater-Szenen entstanden, es wurden Trost spendende Briefe geschrieben, Anleitungen zum Problemelösen gezeichnet, Kurzgeschichten erdacht, geheime Botschaften der Anerkennung versendet, Puppen gebastelt, Schutzrituale begangen …

Workshop während des Festivals

Im Rahmen von »Die Welt ohne uns« haben wir uns mit den Dingen zum Verschwinden beschäftigt.

Dinge zur Tarnung oder zum Verstecken.

Dinge zum Zensieren, Löschen, Ausradieren.

Dinge des Heimlichen und solche, die besser verschwinden sollten, wenn Besuch kommt …

Dinge, die man immer wieder verliert oder die wie von alleine verschwinden.

Dinge aus der Zaubertrickkiste, die einen verpuffen lassen.

Dinge der Auflösung oder Verschmelzung.

Wir ließen die Teilnehmenden sich vorstellen, wieder ein Kind zu sein und verstecken zu spielen – der Countdown des Runterzählens ging gleich los: 6 – 5 – 4 – 3 – 2 – 1 1/2 – 1 1/4 – 1 – 0 – »Ich komme!«

Wir ließen sie sich vorstellen, ein Spion oder eine Privatdetektivin in einem Film Noir zu sein und jemandem aus dem Fenster unauffällig zu beobachten.

Wir ließen sie ihr Handy auf Flugzeugmodus schalten.

Wir ließen sie an Situationen denken, in denen ihnen etwas furchtbar peinlich war oder wo sie sich schrecklich (fremd)geschämt haben, um dann eine Haltung einzunehmen, die sie da am liebsten eingenommen hätten – um sich zu schützen oder irgendwie vom Erbdboden verschluckt zu werden.

Wir ließen sie durch die Wohnung wandeln, am besten dorthin wo andere Personen auch anwesend sind. Sie sollten sich vorstellen, ein Geist zu sein oder einen Unsichtbarkeitsmantel zu tragen. Auf jeden Fall sollten sie sich so durch den Raum bewegen, als wäre ihnen klar, dass die anderen sie nicht wahrnehmen können.

Wir ließen sie durch ihr Zimmer gehen und sich umschauen, so als wären sie Außerirdische, die nur einen kurzen Besuch auf dem Planeten Erde machen und wissen, dass sie mit dieser Welt hier nichts am Hut haben.

Wir ließen sie an die Tage denken, wo einem einfach alles zu viel ist, einem die Decke auf den Kopf fällt, when everybody can just fuck themselves, und ließen sie in eine Position begeben, in die sie sich da am liebsten verkriechen.

Wir ließen sie überlegen, zu welcher Veranstaltung sie in nächster Zeit eingeladen worden sind und luden sie dazu ein, jetzt eine E-Mail an die Gastegeber*innen zu schreiben und abzusagen und sich fest in den Kalender einzutragen, an diesem Termin keine weiteren Verabredungen anzunehmen, das Handy auszuschalten, unerreichbar zu sein. Choose to stay away.

Wir teilten den Film How Not to be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File, 2013 der Medienkünstlerin Hito Steyerl, in welchem Lektionen zum Unsichtbarwerden geteilt werden (Zitate):

Lektionen zum Unsichtbarwerden

Lektion 1:
Etwas für eine Kamera unsichtbar machen.
– verstecken
– entfernen
– aus dem Bildschirm treten
[…]
Die Auflösung bestimmt Sichtbarkeit. Alles, was nicht von der Auflösung erfasst wird, ist
unsichtbar.


Lektion 2:
In der Öffentlichkeit in ,plain sight’ unsichtbar werden:
– Tun Sie so, als ob Sie nicht da wären
– Sich hinter etwas verstecken
– In einer Gated Community leben
– eine Frau sein die älter als fünfzig ist
[…]


Lektion 3:
Wie man unsichtbar wird, indem man ein Bild wird.
– To become invisible one has to become smaller or equal to one pixel [Um unsichtbar zu werden,
muss man kleiner oder gleich einem Pixel werden]

Selbstbehältnis und Comment vivre ensemble

Wir sprachen über das Phänomen des Ghostings und weitere alltägliche – irgendwie ambivalente weil eskapistische, aber zum Regenerieren auch notwendige – Kulturtechniken des Verschwindens; wobei uns Techniken aus der Kindheit als besondere Vorbilder dienten. Wie wichtig zum Beispiel, sich eine Decke über den Kopf ziehen zu können und so wenigstens momentweise von dieser Welt zu verschwinden. Warum das nicht mehr in den Alltag der Erwachsenenwelt integrieren? Wenn es uns zum Beispiel schwer fällt, uns zu erlauben, mal nicht erreichbar zu sein und für zwei Stunden einfach ohne Ablenkung zu lesen – vielleicht helfen da die Techniken der Selbstbehältnisse: sich mit dicken Decken und einem Tisch eine Höhle bauen und dort mit einer Taschenlampe hockend lesen …

Dazu zum Abschluss ein Auszug von Roland Barthes über ,Die Eingeschlossenen von Poitiers’, aus Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976-1977, Frankfurt/Main 2007 [2002], S. 116-118:

»Wäre es möglich, diesen Einschließungswahn noch zu übertreffen? Ja, und Mélanie selbst verrät den thematischen Kern, um den sich das Geheimnis dreht. Ihr tiefster und einziger Impuls, der Ursprung der Einschließung: die Decke. Polizeiliche Aussage der Mutter: ‚Sie wollte ohne Bettlaken schlafen, weigerte sich, ein Hemd zu tragen … Sie war erst glücklich, wenn sie unter einer Decke verschwand.‘ Und: ‚Sie hat den Tick, das Leintuch über die Augen zu ziehen.‘ Subtiles Thema der Decke auf nacktem Körper (vgl. das Verbot für Mönche, nackt zu schlafen): entzieht den Körper den familiären, häuslichen Schlafgewohnheiten. Das Laken wickelt ein, verdunkelt (ein Kind flüchtet unter seine Decken), isoliert vollständig: Einschließung in eine zweite Haut; Regression in den Mutterleib (Fruchtwasser). (Geschlechtsverkehr im Bett: sich einschließen, die Welt wird abgeschafft = zum autarken, androgynen Wesen werden.) Mélanie selbst verstand dieses tiefe Begrabensein als Glück: sie gab diesem absoluten Loch einen Namen: ihre ‚liebe kleine Höhle‘. Als sie ins Krankenhaus gebracht werden soll: ‚Alles, was ihr wollt, aber laßt mich in meiner lieben kleinen Höhle!‘, ihrer ‚lieben, guten, tiefen Höhle‘ oder auch, in ihrem Kauderwelsch: ihrer ‚lieben, guten, tiefen Mühlenhöhle‘, ‚meiner lieben tiefen Malampia- Höhle‘.

Man beachte: Was wir hier beschreiben, die vollständige Schließung, ist ein Konzept, denn es hat einen Namen, und zwar einen neugeschaffenen Namen: Malampia. Mélanie ist Logothetin [Sprachbegründerin] (also Gott).

Nennen wir Malampianismus jede auch nur flüchtige Gefühlsbewegung, die ein Subjekt dazu treibt, zu fliehen, sich zu verhüllen, die Welt auszublenden, doch nicht auf dem Wege der Askese (mönchische Einschließung), sondern auf dem Weg des Genießens. Unnötig, daran zu erinnern, daß die Gesellschaft den Malampianismus unterdrückt: Mélanie wird ihrer ‚lieben kleinen Höhle‘ von der Justiz entrissen und in ein Krankenhausbett verfrachtet, ins Helle, Lichte, Saubere – und in die Religion.

Es steht mir nicht zu, eine Erklärung […] des Einschließungs‚wahns‘ zu liefern; ich will nur bemerken, daß es zwar den klinischen Begriff Klaustrophobie, nicht aber der Klaustrophilie oder Klaustromanie gibt. Doch Spuren dieser Klaustrophilie zeigen sich bei vielen von uns. Ich jedenfalls überrasche mich selbst dabei: Vorliebe mich in geschlossenen Räumen einzurichten (zum Arbeiten, Leben, Schlafen), die durch enge Zugänge und Befestigungen gesichert sind.«

Beate Absalon und Sebastian Köthe sind große Fans des Malampianismus und freuen sich auf weitere Theorie-Cafés und das nächste Festival Theater der Dinge.


Theorie-Café #9: Dinge zum Verschwinden
Online-Workshop

13.11. in der Virtuellen Schaubude auf Gather Town
Konzeption, Moderation: Beate Absalon, Sebastian Köthe