14 Variationen über THE AUTOMATED SNIPER von Julian Hetzel

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Kunstwerke haben etwas Unendliches an sich: Sie provozieren unterschiedliche Deutungen, widerstreitende Urteile und lassen sich von vielen Blickwinkeln aus betrachten. Um dieser Pluralität Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, haben wir Studierende des theaterwissenschaftlichen Kurses Einführung in die Aufführungsanalyse von Dr. Torsten Jost (FU Berlin) eingeladen, kurze Antworten auf Julian Hetzels Arbeit »The Automated Sniper« zu verfassen. Die Texte nehmen so unterschiedliche Begriffe wie »Desinteresse«, »Gesellschaftskritik« oder »Weiße Weste« zum Anlass, um sich Hetzels provokativer Überblendung von Kunstbetrieb und der Drohne als neuer Technologie der Kriegsführung zu stellen.   

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Arbeit am Text

»Monochrome still life« sind die ersten Worte, die 25 Minuten in die Inszenierung hinein gesprochen werden. Beschreibungen der auf der Bühne geschaffenen Installationen werden ans Publikum gerichtet, die Kommunikation zwischen den Akteuren bleibt jedoch durchgehend nonverbal. Über Lautsprecher werden die Zuschauer von einer freundlichen, weiblichen Stimme begrüßt und eingeleitet und schließlich durch das »Spiel« in 4 Leveln durchgeführt. Freiwillige Zuschauer werden angewiesen, in einem Raum hinter der Bühne eine »Waffe« zu bedienen, welche auf die Bühne schießt. Die Installationen werden während eines Levels zu militärischen Hilfsmitteln, die Akteure zu politischen Feinden, auf welche man nach Aufforderung zielt. Zwischen den verschiedenen Levels werden die kaputten Objekte zu neuen Kunstwerken aufgebaut. Eine Kommunikation zwischen der Erzählerin im Off und den Akteuren auf der Bühne gibt es nicht, es entstehen zwei Realitäten im Raum. Die Gamer und Zuschauer müssen für sich selbst entscheiden, was es bedeutet, mit dem automated Sniper zu zerstören.

O.D.


Aufmerksamkeit 

As any other art form, we can interpret a theater performance in thousands of ways. “The Automated Sniper” was one of the performances that brought up a lot of these questions. This is my take on the performance.
The minimalist aesthetic at the start was intriguing as it made the audience wait for the end result. In reference to the word “Attention” itself, there are a few moments throughout the show that really grasp their attention. The audience is a key part of theater and the instructions given throughout the whole gameplay required the players and the audience to be attentive and at the same time let them be part of the performance.
The most interesting part for me was when both the actors finished assembling their pieces and described what they have built. Just like in an art gallery, interpretations vary. Anything could be whatever we say it is: it is just the matter of us setting the rules on how we want it to be perceived.

Billie Rahman

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Botschaft

In »The Automated Sniper« von Julian Hetzel wurde am Samstagabend im Radialsystem die Bühne, inklusive Darsteller, mit einem Paintballgewehr beschossen. Die Waffe wurde von einer Freiwilligen aus dem Publikum gesteuert.
Zwei Performer bauen aus verschiedenen Gegenständen Skulpturen. Es wirkt, als stünden sie im Wettbewerb zueinander. Doch was wollen sie sich beweisen? Die Abstraktion scheint hier im Vordergrund zu stehen, weniger die Intention des Künstlers.
Während die Schießende bedingungslos die Anweisungen der Spielleitung befolgt, unterstützen die Schüsse die Performer dabei, die Skulpturen extremer zu gestalten. Wenn allerdings durch diese Motivation eindrucksvolle Ergebnisse entstehen, müssen wir uns dann noch für einen Einfluss auf Kunst entscheiden? Brutalität scheint eher als künstlerisches Mittel wahrgenommen zu werden, statt als Einschränkung und Gefahr. Wenn wir Kunst als die einzige revolutionäre Kraft erklären, die die Menschheit von Unterdrückung befreie, warum lassen wir sie dann von Mächten, die über uns stehen, steuern?
Das Ende von »The Automated Sniper« bietet Ruhe, um die Zerstörung auf der Bühne genauer zu betrachten. Das Lied »Colors« von Peter Josef wird eingespielt und erinnert daran, dass Kunst nicht unbedingt einen Feind braucht, um zu entstehen.

Klara Liebig


Bühne

Da ist dieser weiße Schuhkarton vor mir. In ihm leben zwei Menschen. Sie bewegen sich wie Menschen, aber ob sie leben, das weiß ich nicht genau. Um sie herum eine unwirkliche Realität. Zwischen Stuhl, Baufließ, Satellitenschüssel, Gummiband, Rettungsfolie, Kleiderständer, Rohr und Plastikeimer baut sich stetig eine Welt durch ihre Hände auf und ab. Die Welt ist Kunst. Schnell wird Kunst zu Wettbewerb und Wettbewerb zu Krieg. Skulpturen werden zu Verstecken für Todesgeängstigte. Jetzt bin ich mir sicher, sie leben. »Destroy its shelter. Shoot!« In mir sammelt sich Angst. Was passiert, wenn einer dieser Menschen die Grenzen ihres Schuhkartons übertritt? Versucht zu fliehen, zwischen uns hindurch stürzt. »Now place the red dot on the subjects face. Okay. And now shoot.« Ich will nicht, dass das echt wird. Ich will keinen Krieg, ich will die Kunst zurück.

Luise Kolbinger

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Desinteresse

»The Automated Sniper« weist viele verschieden Facetten von Desinteresse auf – da wäre zu allererst das der Maschine innenwohnende Desinteresse an ihren Taten. Diese Form von Desinteresse unterscheidet sich allerdings fundamental von dem Desinteresse ihrer Erschaffer und Lenker.
Das maschinelle Desinteresse rührt aus ihrer Programmierung. Die Sniper hat kein eigenes Bewusstsein. Diese Tatsache wiederum wurde ganz bewusst von Menschen so konzipiert, welche damit ihr eigenes Desinteresse weiter vergrößern können. Man erschafft eine Tötungsmaschine, die man aus physischer Distanz kontrollieren kann – die aber, anders als ein Soldat, nicht die Fähigkeit hat, Empathie zu wecken.
Auch die Schützen selbst erfahren eine emotionale Distanz von der Tat. Sie halten kein Schwert in der Hand, sie bedienen einen Joystick (JOYstick) und sehen ihre Ziele über einen Bildschirm. Ihre Handlung wird zu einem Spiel verharmlost.
Je weiter und unmenschlicher der Arm des Krieges, desto weniger Interesse und Mitgefühl verlangt er von seinen Akteuren.

Alice K.


Figuration

»It seems like our machine has a life of it‘s own.«

Ein Satz, der sich perfekt in den Abend einfügte, obwohl er eigentlich gar nicht zum ursprünglichen Text der Inszenierung gehörte.
Die computeranimierte Stimme der Performerin Ana Wild führte durch das Spiel des Abends und ließ Zuschauer aus dem Publikum mit einem robotischen Arm auf die Bühne schießen. Als dies aufgrund technischer Probleme einmal nicht funktionierte, witzelte sie, dass die Maschine, die Waffe, ein Eigenleben habe.
Und so war es auch. Die Waffe wurde zu einer Hauptfigur der Aufführung. Durch sie wurde zerstört und entstand Neues, sie verursachte Angst, Schmerz und schuf Kunst. Somit schien es tatsächlich, als übten nicht nur die Zuschauer direkten Einfluss auf die Waffe, sondern die Waffe als Figur des Abends auch Einfluss auf die Zuschauer und das Geschehen.

Tabea Eschenbrenner

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Gesellschaftskritik

Die Inszenierung lässt die Zuschauer Krieg spielen.
Dabei werden die Theaterbesucher mit ihrem eigenen Zerstörungsvoyeurismus konfrontiert und können verfolgen, mit welcher Leichtigkeit andere Zuschauer aus der Ferne eine Drohne steuern und die Spieler auf der Bühne mit Paintballkugeln beschießen – eine sehr konkrete Übertragung der modernen Kriegsrealität auf die Bühne. Aufgeladenes Vergnügen an der Videospielästhetik mischt sich mit dem realen Gefühl kriegerischer Bedrohung, die sich durch das energiegeladene Spiel der beschossenen, sich verschanzenden Schauspieler ergibt.
Auch kritisiert die Inszenierung sich selbst, wenn sie den Kunstbetrieb als die Darstellung abstrakter Sinnentleerung verschiedenster Objekte parodiert. Trotz der Faszination, die das Entstehen immer komplexerer Statuen auslöst, bleibt die Kunst machtlos und wird neben den Schauspielern zum Zielobjekt der Ballerdrohne. Auch das zerstörte Endbild der Aufführung, das in Trump’scher Manier eine Revolution der Kunst fordert, wirkt wie ein verzweifelter Wunsch nach einem wirkungsvollen Gegenschlag gegen eine gewaltsame, sich weiter anonymisierende Gesellschaft.

Niclas O’Donnokoé


Kritische Haltung

Beim Anschauen dieser Aufführung ging mir so einiges durch den Kopf. Ich habe keinen speziellen Moment, der mich besonders zum Denken anregte, mich beschäftigt die Aufführung als Ganzes. Allein die Thematik, die Wirklichkeit und Spiel in Zusammenhang setzt, die aktuell besonders präsent in unserer realen Welt ist, ist schwierig. Die Einbringung dieser in eine Inszenierung, ohne sie zu verherrlichen oder eine Grenze zu überschreiten, ist eine große Herausforderung. Dabei stellt sich mir die Frage, wo diese Grenze liegt und wie weit man gehen darf.
Auch besonders interessant war die Beteiligung des Publikums, die für den weiteren Verlauf der Aufführung relevant war. Die Freiwilligen werden einer Situation ausgesetzt, in der sie sich ihren eigenen Überzeugungen stellen und auch widersetzen müssen, was mich zur Frage der Rolle und Aufgabe des Theaters bringt. Soll das Theater nicht die Möglichkeit bieten, der Realität und moralischen Fragen für kurze Zeit zu entfliehen, anstatt die Gesellschaft erneut damit zu konfrontieren?

Djanna


Metaphorik

Eine Waffe bleibt eine Waffe, auch wenn sie nur im Spiel benutzt wird. Ein Mensch am Auslöser bleibt ein Mensch am Auslöser, auch wenn er die Waffe nur fernsteuert. Ein Schuss auf einen Menschen bleibt ein Schuss auf einen Menschen, auch wenn nur mit Farbe auf ihn geschossen wird.
Doch das Spiel wird zum Krieg, der Spieler zum Schützen, die Zuschauenden zu Komplizen, die Getroffenen zu Erschossenen.
Es ist ein schleichender Prozess, den man bei »The Automated Sniper« zu sehen – gar zu spüren bekommt. Das Spiel verändert sich und verschwindet ganz, wenn die Gewalt überhandnimmt. Das Metaphorische wird erst langsam sichtbar, dann deutlich und letztendlich verschwindet es vollends, wenn der Krieg nicht mehr abstrakt, sondern ganz real sichtbar ist.

Martin Naundorf


Nicht Verstehen

Das Geschehen auf der Bühne beginnt still und minimalistisch und schärft somit meine Aufmerksamkeit auf das Wesentliche. Objekte, die verteilt im Bühnenraum liegen, werden von den Performern zu Figuren zusammengestellt und ausbalanciert. Die Performer wetteifern auf der Bühne um die fragilsten und interessantesten Skulpturen, welche im Anschluss betitelt werden. In diesem Moment kann ich noch nicht verstehen, wie die Drohne mit dem Kunstbetrieb in Verbindung stehen wird. Später wird diese als eine zentrale Figur in der Aufführung fungieren. So wird die Einführung mit der Drohne in die Spielewelt zum Verbindungsstück von Publikum und Performer, indem Freiwillige aus dem Publikum die Möglichkeit bekommen, in einem separaten Raum die Drohne zu Steuern um somit zum Teil der Aufführung zu werden. Mit Fortschreiten der Inszenierung zeigen sich Gemeinsamkeiten zwischen Krieg, Kunst und Spiel. Dieses Zusammenspiel wirft jedoch viele weitere Fragen auf und zeigt erneut: Ich weiß, dass ich nicht weiß.

Jörn Herrmann

Schaubude_ttd_2019_sniper5Performance/Tanz

»The Automated Sniper« beginnt mit zwei stummen Performern, die mit scheinbar zufälligen Gegenständen auf der Bühne Kunstwerke bauen. Sie versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen die Gebilde werden immer komplizierter, immer fragiler, bis man selbst als Zuschauer die Luft anhält, aus Angst den geduldig errichteten Turm aus der Balance zu bringen. Mein Herz hat dabei vermutlich eine ebenso anstrengende Performance hingelegt wie Bas van Rijnsoever und Claudio Rietfeld auf der Bühne. Jeder Schritt muss überlegt sein, jeder Atemzug bedacht, wenn man die Schwerkraft austricksen will. Es ergibt sich eine Art eigenwilliger Tanz mit den Objekten, bei dem jede Bewegung zählt. Die Erschaffung der Skulptur ist damit möglicherweise ebenso künstlerisch wie das vollendete Werk selbst.

Kristin Z.


Überfluss

Im Hinblick auf Überfluss ist für mich vor allem das Thema der Inszenierung interessant.
Ist Gewalt einfacher hinzunehmen, wenn sie nicht direkt, nicht greifbar, sondern nur auf dem Bildschirm in einer virtuellen Welt erscheint? Verleitet diese Irrealität dazu, Macht zu missbrauchen?
Ein Überfluss an Reizen, bestehend aus Druck, Angst, Stress, aber auch Rivalität, erzeugt von der Gesellschaft und Menschen in Machtpositionen, lässt den einzelnen entgegen seinen Werten und Moralvorstellungen handeln. Aber auch die Distanz zum Gegner relativiert die Empathie und nimmt dem Opfer seinen Wert als Mensch.
Wie oft brauchen wir einen Überfluss an Grenzüberschreitungen, bis uns Gewalt sowie Krieg teilnahmslos, passiv und stumpf werden lassen?

Cecilia


Weiße Weste

Sauberkeit. Ein Begriff, der uns doch alle zugegebenermaßen mit Wohlbehagen erfüllt. Man fühlt sich wohl, wenn man aus der dreckigen Bahn kommend den Aufführungsraum des Radialsystems betritt. Vor einem eröffnet sich ein in Weiß- und Schwarztönen gehaltener Raum, der einen nicht durch übermäßige Sinneseindrücke erstickt und geradezu vor Sauberkeit schreit. Alles wirkt geradezu klinisch sauber. Steril. Jedoch überkommt einen ein Gefühlswandel bei der Einführung des automated snipers, eine Paintballmaschine im simulierten Computerspiel, oder auch eine extern gesteuerte Waffe im Krieg. Wenig wird zu viel. Einfache Gegenstände werden zu Schutzbunkern und der weiße Raum zum Schlachtfeld. Die angenehme Ordnung wird durchbrochen und übrig bleibt ein Bild der Verwüstung. Alles durch die Interaktion des Zuschauers. Ein im Hinblick auf die politischen Weltgeschehnisse recht doppeldeutiges und ironisches Spiel. Doch es findet hier ein friedvolles Ende. Übrig bleiben nur ein Spruch, ein Bild und ein Lied. Der Zuschauer ist beruhigt und wird in seine heile Welt der Ordnung zurückgeführt. Oder handelt es sich doch nur um Unordnung im Gewand einer weißen Weste?

Agnes Ehlich


Zeit

»The Automated Sniper« kreiert eine Art zeitlosen Raum. Im Laufe der Aufführung verliert der Zuschauer immer mehr sein Zeitgefühl, zwischen hektischen und fast schon meditativ langsamen Sequenzen wird man immer mehr in den Rhythmus der Aufführung gezogen. Einzig und allein die Unterbrechung der von Zuschauern gespielten Levels, auf Grund von abgelaufener Zeit, bringt den Zeitaspekt wieder in die Köpfe zurück. Die Aufführung lässt einen Anfang (das Arrangieren von Objekten), einen Hauptteil (das Spiel) und ein Ende (in Form eines Liedes) erkennen. »The Automated Sniper« schafft eine fiktive Welt, die den Zuschauer fesselt und Zeit und Raum vergessen lässt.

Alina

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Fotos: Schaubude Berlin (1, 2, 4), Bas de Brouwer

The Automated Sniper
Performance von Julian Hetzel, Niederlande. Vorstellung im Rahmen von Theater der Dinge: am 26.10.2019, Spielstätte: radialsystem.

Produktion: Frascati Theater Amsterdam in Zusammenarbeit mit ism&heit
Koproduktion mit: Gessnerallee Zürich, Beursschouwburg Brussel, Göteborg dans & teater festival, Uzès Festival, WP Zimmer Antwerpen
Gefördert von: Fonds Podiumkunsten NL
Unterstützt von: ACCA Altenborough Center for Creative Arts Brighton
Regie: Julian Hetzel
Spiel: Bas van Rijnsoever, Claudio Ritfeld, Zaid Saad, Ana Wild
Dramaturgie: Miguel Angel Melgares
Maschinenbau: Hannes Waldschütz
Kostüme: Karianne Hoenderkamp
Technische Leitung: Tymen Bergman
Lichttechnik: Vincent Beune
Lichtdesign: Nico de Rooij
Produktionsmanagement: Jasper Hupkens