Der ganze Saal riecht nach verbranntem weißen Salbei. Ich kenne den Geruch aus einem dieser Esoterikläden, in welchem mir die mit Edelsteinen behangene Verkäuferin erklärte, dass das Räuchern mit weißem Salbei traditionell bei Ritualen angewandt wird, um böse Geister zu vertreiben und Platz für Neues zu schaffen. Im Verlauf von »Noir AV Ritual« wird etwas Neues geschaffen aus dem schwarz-weißen B-Movie »Santo vs. las Mujeres Vampiro«, denn der Protagonist »El Santo« wurde hier vollkommen ausgeräuchert, taucht nicht auf. So liegt der Fokus ganz auf den Vampirinnen. Sie verströmen ihren okkulten Zauber nicht nur, wenn sie aus hundertjährigem Schlaf aus ihren Sarkophagen erwachen und nach einem Schluck Zaubertrank zu Femme Fatale-Schönheiten werden, sondern auch durch die vierte Wand hindurch. Denn neu ist überdies die Filmpräsentation selbst. Die Priesterin des Visuellen, Performerin Cristina Maldonodo, hat ihre Finger im Spiel, wortwörtlich. Wie mehrere übereinander gelegte Folien finden mehrere Projektionen gleichzeitig statt. Über ausgewählte Filmszenen werden zum Beispiel Live-Aufnahmen von Papier übertragen, das langsam zerknüllt wird, so dass es wirkt, als würde eine Vampirin im Kontakt mit Sonnenlicht selber langsam zerknirschen. Oder der Film wird direkt auf die Hände Maldonodos projiziert, was das Gesicht der Schauspielerin merkwürdig entfremdet oder den Anschein macht, als würde durch magische Handbewegungen die Figur selbst, wie ein Homunkulus, erst erschaffen werden. Während der Schönheitsverwandlungen werfen zwei auf einen Overheadprojektor gelegte Glasschalen glitzernde Creolen auf die Filmfiguren. Es herrscht eine Atmosphäre der Ungewissheit, Rätselhaftigkeit und Obskurität, gleichzeitig ist es heiter, ironisch, unbefangen. Ein anderes Mal schreibt sich die Medienkünstlerin wie durch Zauberhand einfach selber in den Film ein, setzt sich zu zwei Vampirinnen ins Restaurant, flüstert einer konspirativ etwas ins Ohr, bedient sich am Champagnerglas. Die Geisterstunde endet, indem nochmal alle elektrischen Geräte — Kameras, Beamer, die Midi-Loops des Musikers Tarnovski — mit dem heiligen Salbei geräuchert werden, während sich im Hintergrund eine mysteriöse, geloopte Formel zum Singsang steigert: »You can say to the branch‚ I feel you, like I feel my arms and legs.«
Was ist hier passiert?
Den Anzeichen nach befanden wir uns in einem geheimnisvollen Ritual. Was mit diesem bezweckt wurde, darauf bekamen wir keine direkten Antworten. Das fehlende Narrativ hängt vielleicht mit der Unsterblichkeit der Vampirinnen zusammen, die im ewigen Reigentanz wieder und wieder erwachen und verführen ohne damit irgendwo hin zu führen, weil es dafür eben auch sowas wie die Endlichkeit bräuchte. Was bedeutet aber die in der Performance kreierte Leerstelle um den Luchador El Santo, in die sich die Künstlerin selbst einschreibt? Haben wir es hier mit einem sogenannten Frauenritual zu tun, wie sie die Ritualforscherin Lesley A. Northup beschreibt, in denen in Abgrenzung zu patriarchalen Zeremonien innovative und ermächtigende Ritualisierungen kreiert werden, die neue Formen der Identität, Solidarität und Gemeinschaft erzeugen und bestehende Machtverhältnisse kritisieren? Ist die Inszenierung den Ritualen des New Age zuordenbar, das zu sogenannten ethnischen Wurzeln zurückkehren will um spirituell angehauchte Praktiken der Transzendenzerfahrung zu ermöglichen?
Rituale bezwecken Transformation aller daran Beteiligten. Als welche Anderen kommen wir aus der Inszenierung heraus? Kaputt gemacht wurde die Zentrierung auf den männlichen, aktiven Held. Raum gemacht wurde dafür für das Verzaubertwerden und Schwelgen im Spiel von Licht und Material. Bekanntermaßen nutzen wir Rituale eben nicht nur, um kaputt zu machen, sondern auch und gerade um zu ordnen, um Bedeutung zu verleihen, um Sicherheit zu schaffen. Rituale sind Kitt der Gemeinschaft. Wenn sich die Künstlerin hier mit den Vampirinnen verschwestert, weil sie sich mit den Tricks ihrer Medienkunst zu ihnen begibt, werden wir eingeladen, auch Teil der Vampirinnenwelt zu werden und uns auf ihre Ordnung einzulassen. In ihrer Welt fällt das »vs.« des Originaltitels weg. Und damit erzeugt das Ritual einen neuen Sinn, der nicht mehr auf einen Konflikt oder ein Ziel fixiert ist. Es gibt keine Mission zu erfüllen. Effizientes Tun wird suspendiert, stattdessen eingeladen zum lustvollen Verirren in surrealen Techniken. Die Verheißung eines mysteriösen Einswerdens steht im Raum, auch mit dem Nichtmenschlichen, wie dem besungenen Zweig. Was bleibt ist die Freude am Wahrnehmen und Überraschtwerden und sich Ergreifen lassen: enchantment. Diese rituelle Kraft können wir als Noviz*innen nun in alle weiteren Inszenierungen des Festivals tragen.
Text: Beate Absalon vom Redaktonsteam
Foto 1: Sebastian Köthe, Foto 2: Andrej Kontra
Noir AV Ritual
Live-Film-Remake von Telekinetic Assault Group, Tschechien. Vorstellung im Rahmen von Theater der Dinge: am 25.10. in der Schaubude Berlin.
Visuelle Priesterin: Cristina Maldonodo
Sound Vampire: Tarnovski
Stimmenzauberin: Isabela Juchniewicz
Koproduktion mit: Jedefrau.org, Centre for Open Culture Pardubice Terra Madoda
Gefördert von: Ministry of Culture Czech Republic, Fondo Nacional para la Cultura y las Artes, México
Unterstützt von: Punctum