Lesen, Leuchten, Queeren. Im Salon für Künstlerische Forschung von Annika Haas

In der Schaubude kann jeder Raum zur Bühne werden. Den künstlerischen Forschungsexperimenten, die einen Schwerpunkt des Festivals »Figure It Out« bildeten, kam das nur gelegen. Und so verwandelte sich an einem Dienstagabend im Juni die Hauptbühne in einen »Salon für Künstlerische Forschung«, von dem aus Besucher*innen in die Garage, die kleine Bühne hinter dem Licht- und Tonpult oder den Keller ausströmten, von dem aus Besucher*innen in die Garage, die kleine Bühne hinter dem Licht- und Tonpult oder den Keller ausströmten.

Foto: Schaubude Berlin

Über »B ch/K rp r La d  ha t« von Jonathan Schmidt-Colinet

Auch ich begebe mich an diesem Abend zum Salon für Künstlerische Forschung und bekomme Einblicke in Projekte, die teils Work-in-Progress, teils eine Art Forschungsinstallation sind. Zu letzteren zählt Jonathan Schmidt-Colinets partizipative Installation »B ch/K rp r La d  ha t«, die in der Backstage-Teeküche aufgeführt wird. Hauptakteur*innen der Installation sind Künstler*innenbücher — hier Booklets genannt —, die im Raum verteilt sind und die von den Besucher*innen selbständig erkundet werden können.

Foto: Schaubude Berlin

Auf der kleinen Faltkarte, die der Künstler vor Betreten aushändigt, heißt es ermutigend: „You might take a moment to understand how each booklet wants to be handled and how to position your body to interact with each of them.” Jede Lektüre wird so zur Performance. Und die Teilnahme daran erfolgt ganz beiläufig und unaufgeregt in diesem Raum, der eine angenehme Ruhe ausstrahlt und dazu einlädt, sich von Booklet zu Booklet und damit zwischen freischwebenden Assoziationen und konzentrierten Blicken zu bewegen.

Foto: Schaubude Berlin

Gleich hinter der Türschwelle stoße ich auf das erste Booklet. Es besteht aus einem engmaschigen Gewebe, auf dem sich Tonscherben befinden, teils verklebt, teils lose. — Ist nicht Lesen immer auch das, sinnvolle Bezüge in einer Ansammlung von Teilen herstellen? Entlang des Heizungsrohrs verläuft ein dünnes, von Hand beschriebenes Schriftband. Es braucht einige Verrenkungen, um dem Textverlauf zu folgen. Im Augenwinkel sehe ich, wie sich der Raum mit weiteren Besucher*innen füllt, die sich zu den Büchern bzw. Buch-Dekonstruktionen im Raum positionieren und daran erinnert werden, dass Lesen eine durch und durch körperliche Angelegenheit ist.

Foto: Schaubude Berlin

Von Buch zu Büchlein zu Buchinstallation wandern die Körper vom Fensterbrett, auf ein Kissen unter einer schützend aufgestellten Pappe, zurück zum Tisch, dann in eine Ecke, in der ein bearbeiteter Bildband über Canyons in Nordamerika montiert ist. Und dann wartet da noch eine kleine hängende Plattform, in deren Mitte sich ein filigranes Büchlein befindet, das von unten beleuchtet wird. Das Heftchen aus mit Wachskreide bemaltem Transparenzpapier kann zu allen Seiten geöffnet werden. Kleine Gewichte dienen zur Fixierung der Seiten, sodass der*die nächste Besucher*in dort weitermachen kann, wo man selbst aufgehört hat zu lesen, und zu spielen.

Die Exponate und Leseorte scheinen trotz des kleinen Raums unendlich. Der Bewegungsfluss zwischen ihnen wird begleitet von einem zarten Klangteppich. Aus den Lautsprechern tönt angenehmes Summen, die im Minutentakt singenden S-Bahn-Gleise scheinen wie darauf abgestimmt; das Blättern und Befühlen der verschiedenen Papiere, die Schritte auf dem kratzigen Teppich, verhaltene Stimmen in Bibliothekslautstärke tragen ihrerseits zu den feinen Soundschichten bei, die das Lesen hier überraschenderweise gar nicht stören. Vielmehr schreiben auch diese Klänge mit an jener poetischen Buch-Körper-Landschaft aus Collagen, Papieren, Fäden und Textfragmenten. An den Wänden und in den Booklets sind Landschaften zu sehen, deren romantische Klischees durch sich aus dem Bild windende Fäden, Einschnitte, Aussparungen und Übermalungen unterbrochen werden — Warum gilt es eigentlich als schön und idyllisch, wenn Schlösser, Burgen und Ruinen über Tälern thronen und sich auf Berge pfropfen?

Foto: Schaubude Berlin

Neben Landschaften, geht es hier auch um die Wahrnehmung von Körpern: „is your identity a fortress?”, steht rund um einen Emu geschrieben, der auf Transparenzpapier geklebt ist. Dahinter gedeiht eine wulstige, rötlich grüne Pflanze. Die von Schmidt-Colinet verklebten, vernähten und miteinander hybridisierten Berge, Schluchten, Tiere, Pflanzen, Gewässer, Wolken und architektonischen Landmarken adressieren Fragen zu Körper und Identität indirekt: Wieso erscheint uns dies als das und jenes als etwas anderes? Konkret äußert sich ein Zettel an der Wand dazu, wie Körper lesen und wie sie gelesen werden: „Dear reader”, sagt der Zettel, „I am happy I don’t need to face you in person. Happy I don’t need to see your nose. […] I don’t need to endure your gaze upon me, how you scan my body, how you compare my voice to my shirt […] I am the one with the pen now […]” Der Körper jener Person, die diesen Hinweis und diesen Raum geschrieben hat, ist also bewusst abwesend.

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Stattdessen sprechen hier die verschiedentlich im Raum positionierten Textkörper. Sie stellen nicht nur Lesarten von Büchern, Landschaften und Körpern in Frage, sondern setzen sich aus, in mehrere Richtungen gelesen und interpretiert zu werden.

Und könnte es nicht öfter so sein? Könnte eine Begegnung, ob mit Buch, Körper oder Landschaft, nicht öfter so geschehen wie in dieser queeren Installation, die Raum für die poetische Bedeutungsvielfalt gibt, die aus der Interaktion zwischen Leser*in und Gegenüber entstehen kann?

Über »My Inner Archive«, Mathias Becker

Foto: Schaubude Berlin

Mit ganz anderen Mitteln wird eine solches Queer-, Wieder- und Anders-Lesen von Bekanntem und Neuem bei einer weiteren Performance an diesem Abend entwickelt. Mathias Becker aka Becky nimmt eine kleine Gruppe dafür mit in den dunklen Keller, der nur durch die Smartphone-LED-Lampen des Publikums und die Lämpchen von Beckys Audioequipment beleuchtet wird. Aufgebaut ist hier »My Inner Archive«, ein sich in Erforschung befindliches inneres Archiv aus biografischen Bezügen, Stimmen und Vorreiter*innen der Schwulen-, Trans- und queeren Communities aus verschiedenen Berliner und ostdeutschen Zeiten.

Foto: Schaubude Berlin

Das Archiv hat keine auf den ersten Blick erkennbare Ordnung. An den Wänden hängen Fotografien, die von Recherchen in Berliner Archiven wie dem FFBIZ oder dem Schwulen Museum erzählen. Becky beleuchtet die Fotografien mit ihrem Smartphone und arbeitet mit den Schatten, die Artefakte wie die spinnenartig montierten Kleiderbügel aus dem Schrank der Großmutter werfen. Die Fotografien an den Wänden sind klein, daher gestaltet sich die Performance als Rundgang durch dieses sehr persönliche Kellergedächtnis, das auch der Performer*in erst sukzessive ins Bewusstsein zu treten scheint.

Foto: Schaubude Berlin

So wird eine CD von Norbert Bischoff, einem schwulen DDR-Liedermacher, fragend auf und zu geklappt und wird dem Mitbegründer der kirchlichen Schwulenbewegung in der DDR, Eduard Stapel, mehrmals, und doch verhalten, gedankt. Vielleicht ist noch nicht gänzlich zu ermessen, wofür diesen beiden zu danken ist. Ein deutliches Statement setzt Becky mit ihrer Performance jedoch gegen das Vergessen dieser Namen. Unter diesen ist auch jener der Polit-Tunte Ovo Maltine, die für den Erhalt der Berliner Klappen eintrat, die heute oft aufgehübscht und umgenutzt sind, während nichts mehr an ihre Vergangenheit als Cruising-Ort erinnert.

Foto: Schaubude Berlin

Wem „Klappe“ gar nichts mehr sagt, der*die kann nach Beckys Performance mit der eigenen Taschenlampe noch einmal genauer hinschauen, nachlesen und weitere Namen, wie den von Rita „Tommy“ Thomas. Wie Schmidt-Colinets»B ch/K rp r La d  ha t« funktioniert auch diese Performance installativ bzw. produziert die Materialisierung dieses inneren Archivs als Installation eine Performance. In den Minuten nach der Performance umschwirren die Lichtkegel aus den Smartphones des Publikums die hier versammelten Erinnerungen, Namen und Fetzen queerer Berliner Geschichte, zu der nun auch Beckys vergleichsweise stille Drag-Performance zählt.

Foto: Schaubude Berlin

Annika Haas forscht und lehrt an der Universität der Künste Berlin. In ihrer Dissertation hat sie sich mit dem Schreiben des Körpers bei Hélène Cixous beschäftigt und dabei gelernt, dass sich künstlerische Forschungsansätze nicht auf die Künste beschränken.