Was ist Chaos? Alltag im Kinderzimmer, ein paar Scherben auf dem Boden, die Flugkurve eines Insekts oder der Urzustand aller Materie?
Auf der Bühne hängen drei weiße Gebilde, wie riesige Waschlappen, vielleicht Insektennester? Einer bewegt sich kaum merklich, dann werden ein paar Fingerspitzen, ein Arm, ein Bein sichtbar, schließlich fällt der hohle Kokon wie eine gerissene Eierschale ab. Für alle sichtbar hängt die Künstlerin Alpha Kartsaki mit den Füßen zur Decke in einem Klettergeschirr. Ihr Kollege Gonzalo Barahona zeichnet mit schnellen Strichen Bauch, Beine und Flügel einer Fliege, den der Overhead wie eine Körper-Ergänzung um sie herum projiziert. Wenig später stehen die beiden an der Rampe und erklären um welche Art von Versuchen es Ihnen geht. »Das, was wir euch da gezeigt haben, war ein Versuch zu fliegen; es gibt fliegen und es gibt Fliegen.« »Wir zeigen heute eine Auswahl aller Versuche um zu verstehen, wie funktioniert dieses Chaos, aber auch Fliegen und Maschinen.«
Die Beiden arbeiten konzentriert an ihrem Material, dem sie seine Verwandlungs- und Suggestionskräfte in immer neuen Aufbauten entlocken. Wird dann doch gesprochen, sind es Gedankenfetzen über Ähnlichkeiten von Strukturen von Seifenblasen und Insektenaugen oder Gegensatzpaare wie die Varianz von Leoparden- und die Öde des Panda-Musters.
Der Topos Chaos dient hier als Einfallstor für unendliche Möglichkeiten der Verknüpfung und Anverwandlung zwischen Insekten und Maschinen, in dem stringente Ordnungssysteme wegfallen und dennoch nach Mustern von Ähnlichkeit und Differenz gesucht wird.
Das Insektenmotiv und viele der Materialversuche dieser Stückentwicklung sind aus der Arbeit mit einer Gruppe von Kindern im TUKI-Forschertheater-Programm entstanden. Das wiederkehrende Audio-Sample von zerberstendem Porzellan stammt direkt aus einem Zerstörungs-Versuch mit den Kindern. Auch einige der Fragen, die am Ende der riesigen Fliege gestellt werden, sind den Kindern abgelauscht: Kann man aus kaputten Dingen etwas wieder-erfinden? Gibt es ein Bauplan für Insekten? Funktionieren Insekten wie Maschinen?
Hauptakteure sind der Overhead-Projektor auf dem die Zeichenkunst von Gonzalo stattfindet und das regalhohe, selbstgebaute Soundboard, aus dessen Saiten Alpha mit einem Cello-Bogen Insekten-Brummen, feine Melodien und hüpfende Rhythmen herausholt. Gonzalo bearbeitet die großen Bögen aus Formpappe zu immer neuen Einladungen an die Vorstellungskraft des Publikums. Eben noch ein aufgebrochener Kokon, gleich schon ein langer Körper, ein kleiner Kopf, ein paar dicke Fühler. Alpha vertont die Gänge und Sprünge der Schneckenkrokodil-Wurmkröte mit Klopfen und Bögenstrichen. Die Verzauberung des Publikums mittels eines großen Stücks Form-Pappe, das die Gestalt eines jeden Wesens anzunehmen vermag. Eine Fledermaus, ein Blatt, ein Schmetterling oder eine Motte, schließlich werden daraus kopfverhüllende Riesenmasken. Diesem Shapeshifter-Material sind vier detailgetreue Riesen-Heuschrecken entgegengesetzt. Dieses Quartett, so groß wie Möpse, war das erste, das Gonzalo zu Beginn auf die Bühne trug. Sie scheinen schon lange Zeit Zeugen dieser Versuche zu sein.
Text: Verena Lobert ist Gründungsmitglied des Performance-Kollektivs Frl. Wunder AG und hat die Produktion »ver-rückt« für TUKi Bühne beobachtet. Sie liebt den Moment, wenn das Publikum die Stille mit ihrem Klatschen zerstört. Fotos: Jara López Ballonga
¡ ver-rückt ! Versuche zu Chaos, Fliegen und Maschinen
Objekt- und Materialtheater mit Soundcollagen
Eine ForscherTheater-Produktion der Schaubude Berlin mit TUKI Bühne. Premiere im Rahmen von Theater der Dinge: 26.10.2019 in der Schaubude Berlin.
Regie: Franziska Burnay Pereira | Performance, Musik: Alpha Angelina Kartsaki| Performance, Figurenbau: Gonzalo Barahona | Kostüm, Bühne: Michaela Muchina | Dramaturgie, Bühne: Susann Tamoszus |Lichtdesign: David Scholz | Leitung TUKI Bühne: Renate Breitig |Film- und Fotodokumentation: Jara López Ballonga