Gutta, Guthu, Goutto. Ein Name in Übersetzung, der mehr von den Reisen durch Europa erzählt, als dass er jene Person vorstellen könnte oder wollte, die mit ihm belegt wurde: Eine junge Frau, die als Teil der Völkerschauen Ende des 19. Jh. und „Mitglied“ der „Dahomean warriors“ dem Publikum zur Schau gestellt wurde. Als sie im September 1892 in Prag starb, wurde ihr Begräbnis zum Spektakel; die Trauer der anderen „Gruppenmitglieder“, so lässt ein Zeitungsausschnitt der lokalen Presse vermuten, schien Teil jener Inszenierung zu werden, die das Leben dieser Personen bestimmte. Und noch nach ihrem Tod lassen die gaffenden Blicke auf den Körper der jungen Frau nicht von ihren Überresten ab.

Museum of Man, Prag
Ihr zwei Jahre später exhumierter Körper wurde von einem Anthropologen der hiesigen universitären Sammlung „gespendet“. Das Skelett bekam ein Label, „Amazon Gutta“, und kann heute wie damals noch im Museum of Man in Prag betrachtet werden (siehe hierfür den Essay »Impossible Portraits of Gutta« von Ludomir Franczak).
Das Blicken auf diesen ausgestellten Körper scheint kein Ende zu nehmen, auch wenn nichts mehr in ihm zurückblickt. Dieses Skandalon, dass der lebende Körper in merkwürdiger Weise immer schon seines Lebens enthoben wurde, das lebende Objekt sich zum Blicken der anderen nicht viel anders verhielt als das tote, markiert den Ausgangspunkt einer Geschichte, die nicht vergangen ist, sondern anhält. Während die Geschichte des Blickens aufgearbeitet werden kann und muss, bleibt die Geschichte der jungen Frau im Ungewissen.

Von Ludomir Francza modifizierte Fotografie von Gutta
Die Künstler*innen Ludomir Franczak und Sára Märc haben in ihrer Performance gerade nicht den Versuch unternommen, diese unmöglich zu erzählende Geschichte trotzdem zu erzählen. Vielmehr scheint die Performance »Gutta« überhaupt nicht zu erzählen, sondern (auf) etwas zu zeigen, und zwar die Involviertheit des Theaters in Prozesse des Ausstellens. Wenn Franczak und Märc ihre Performance mit der im ethischen Diskurs vieldeutigen Frage „Wer bist du?“ einzuleiten scheinen, so besteht die Feinheit der Arbeit darin, von Anfang an zu wissen, dass diese Frage nur beantwortet werden kann, indem eine Antwort verweigert wird.

Foto: Markéta Slaná
Was wir sehen und hören, sind Fragmente, Bruchstücke, Fundstücke, die Franczak auf seinem Nachgehen der Spuren der fragwürdigen Reisen dieser jungen Frau einsammelt: Fotos, aber auch Äste, ein Stück Rinde, aufgenommene Geräusche sowie verbalisierte Eindrücke seiner Wege. Franczak ist hier geradezu Anti-Flaneur. Er blickt nicht, sucht nicht oder sucht vielmehr nicht zu blicken. Was an Objekten von seinen Wegen ins Theater kommt, sind eher Wegmarken des Wegschauens, die auf die Ränder des Sichtbaren deuten – aber auch auf eine Ohnmacht, dem Blick auf „Gutta“ zu entkommen und sich damit dem gaze Unzähliger zuvor einzuordnen.

Recherchewand für »Gutta« von Ludomir Franczak
Ein einfacher Projektor ist über einen Schreibtisch montiert. Alles, was Franczak auf dem Tisch anordnet, wird auf die dahinterliegende Wand projiziert. Gegen Ende der Performance schichtet er Fotos über Fotos; Ansichtskarten jener Städte, in denen die Völkerschau gastierte.

Foto: Markéta Slaná
Das Publikum von heute glotzt auf die pittoresken Fassaden, die vergrößert durch die Linse des Projektors auf die Wand geworfen und unter den Schichten immer neuer Karten begraben werden.
Sich Dekolonialsierungsprozessen zuzuwenden meint auch und im Besonderem, sein eigenes Tun auf die Probe zu stellen. Die Bühne ist Ort der Entblößung, des Aussetzens. Sie zu dekolonialisieren bleibt Aufgabe.
Zum Schluss sehen wir „sie“ doch; eigentlich jedoch nur ein schraffiertes Portrait. Die Zwischenräume zwischen den Strichen scheinen auszustellen, was fehlt, was immer fehlen wird.
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Julia Prager ist Literatur- und Theaterwissenschaftlerin an der TU Dresden. Sie ist anhaltend darüber verunsichert, ob Sicherheit überhaupt in Frage kommen kann.
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»Gutta«
Ludomir Franczak, Polen & Sára Märc, Tschechien
Projektteam Zuzanna Berendt, Petr Dlouhý, Marcin Dymiter, Ludomir Franczak, Agáta Hrnčířová, Anna Majewska, Sára Märc, Ida Ślęzak/ Mitarbeit Johanna Berg, Dominika Czarnecka, Filip Herza, Clemens Radauer, Louise Steinman/ Koproduktion mit Cross Attic Prag, Studio ALTA Prag, Pracownia Kuratorska Krakau