Über drei Inszenierungen im Rahmen des Berliner Showcase »Figure It Out«
Dass die Bühne ein guter Ort für Verwandlungen ist, ist sicher keine neue Erkenntnis. Und auch die Feststellung, dass Figurentheater mit seinen vielfältigen Beziehungen zwischen Subjekt- und Objektwelt und verschiedenen Ebenen der Zeitlichkeit und Zuständlichkeit besonders dazu geeignet ist, Transformationsprozesse sichtbar zu machen, überrascht nicht. Erstaunlich ist jedoch, wie stark das Thema des sich transformierenden Körpers die Erzählweisen und Formen des zeitgenössischen Figurentheaters bestimmt. Drei Inszenierungen konnte ich im Rahmen des Berliner Showcase »Figure It Out« sehen. Und drei Motive haben sich für mich beim Betrachten und Nachdenken über die Produktionen ergeben.

PROJEKTION – Der verbotene Körper
Die Inszenierung »The Truth about Helga« des Berliner Theaterkollektivs Lovefuckers/ivanaki. kommt als alptraumhafter Bilderreigen daher, der wüst und wild Puppen, Menschen, Schemen und Schatten, Patriarchatskritik, wilhelminische Genrebilder, Splatter und live performten Doom Metal (Band: NADJA) mischt. Was ihn dramaturgisch zusammenhält: Auf allen Ebenen wird projiziert. Nie kann man sich sicher sein, ob in der Bühnenhandlung etwas „wirklich“ geschieht oder ob es von einer der Figuren geträumt, imaginiert oder halluziniert wird.

Das macht es auch so schwer, die Handlung des Abends – der auf dem zwischen 1907 und 1909 entstandenen Roman »Die Leiden des Fürsten Sternenhoch« des tschechischen Autors Ladislav Klíma basiert – zu beschreiben. Ein Versuch in Kürze: Ein ranghoher wilhelminischer Beamter namens Sternenhoch verfällt der geheimnisvollen Erotik einer als hässlich geltenden jungen Frau aus kleinen Verhältnissen. Schnell wird er sich mit dem Vater handelseinig, der die Tochter in eine arrangierte Ehe mit dem Fürsten zwingt. (Alle drei genannten Figuren werden in der Inszenierung durch Puppen dargestellt.)

Helga, die bald nach der Heirat ein Kind zur Welt bringt, rächt sich an den ihr zugefügten Entmündigungen und Demütigungen, indem sie ihr Neugeborenes und ihren Vater tötet und sich einen Liebhaber nimmt.

Außer sich vor Eifersucht sperrt Sternenhoch Helga in einen Turm und lässt sie dort verhungern. In der Folge wird er jedoch von verschiedenen Erscheinungen Helgas heimgesucht, die ihn in den Wahnsinn treiben. Am Ende vereinigt er sich mit Helgas verwesendem Körper.

Das alles kann – dank der verfremdenden Mittel des Puppentheaters – auf der Bühne gezeigt werden, nebst zahlreichen Phantasmagorien in Maskengestalt oder im farbigen Schattenriss: Helga als Naturwesen, das zwischen den Tieren des Waldes niederkommt, Helga als animalische Femme fatale in Gesellschaft dreier Panther, Helga als Männer massakrierender Racheengel. Dabei weiß man nie, auf welcher Realitäts- oder Traumebene man sich als Zuschauende*r gerade befindet. Die „Wahrheit über Helga“ bleibt verborgen.

Ein greller Fokus fällt jedoch auf eine patriarchale Gesellschaft, in der der enthemmte Blick auf den verbotenen weiblichen Körper eine unerbittliche Projektionsmaschine in Gang setzt. Exotische und erotische Genrebildchen auf dem Hintergrundprospekt eröffnen einen Bilderreigen weiblicher Stereotype, während auf der Puppen- und Schauspielebene im Vordergrund gedemütigt, gezüchtigt und gemordet wird. Diese Verbindung von Projektion und Unterdrückung sichtbar zu machen, ist eine der großen Stärken der Inszenierung. Doch in der grotesken und modellhaften Überformung kann die weibliche Protagonistin keine eigene Perspektive entwickeln; sie verbleibt im Status einer männlichen Projektionsfigur. Logischer- und tragischerweise vollzieht sich deshalb die einzig mögliche Transformation – im Tod.
ENTHÜLLUNG – Der befreite Körper
Einen ästhetischen Gegenentwurf zu dem opulenten theatralen Fiebertraum der Lovefuckers bietet die Inszenierung »Hero« der Numen Company (die ich bereits im Mai auf dem Figurentheaterfestival in Erlangen sehen konnte). Der Bühnenraum ist minimalistisch gestaltet – ein hängendes zeltartiges Objekt im Zentrum, rechts davon ein Stühlchen für die Puppe, im Hintergrund eine mit Projektionen bespielte Rückwand, ansonsten ein leerer schwarzer Raum. Und auch die spielerische Konstellation ist aufs Minimum reduziert: ein Spieler, eine Puppe. In suchenden, tastenden Bewegungen von zuweilen meditativer Langsamkeit erforscht Tibo Gebert, ganz in schwarz gekleidet und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den dunklen Bühnenraum.

Zögernd und vorsichtig nähert er sich dann der in der rechten Bühnenhälfte situierten Kinderfigur, die reglos auf einem Stuhl sitzt. Verschiedene Positionen und Konstellationen werden erprobt, bis der Performer vorsichtig die Hand des Kindes nimmt, es zu halten beginnt. Immer wieder entgleitet ihm das Kind, kippt und taumelt, womit auch die Puppe permanent zwischen Objekt- und Subjektstatus oszilliert. Für einen kurzen Moment gibt der Spieler sich zu erkennen, indem er die Kapuze seines Hoodies zurückschiebt und blondes Haar zum Vorschein kommt, das dem des Kindes gleicht. Sofort danach verbirgt er wieder sein Gesicht, verlängert mit der Hand sein schwarzes Kostüm zu einer überlebensgroßen schwarzen Figurine.

Daraufhin übernimmt das Kind den aktiven Part. In einer Art sportlich-gymnastischem Übungsablauf mit Klimmzügen, Dehnungen und Schwüngen „bespielt“ es den Körper des Performers, scheint am Ende fast zu einem Flug anzusetzen, bevor es in manische Kampfbewegungen verfällt. Der Spieler hält es fest – ob als Akt des Beschützens oder Begrenzens bleibt offen.

Fest steht: die beiden sind fortan verbunden. Gemeinsam treten sie schließlich in das geheimnisvolle Objekt in der Bühnenmitte ein; im Dunkel wird das Kind umgekleidet und erscheint – transformiert zu einer Art Batman-Figur – wieder auf der Bühne. Es beginnt ein Tanz, in dem das Kind in einem zweiten Akt der Transformation zärtlich das Gesicht des Performers enthüllt. Der Spieler entblößt schließlich seinen Kopf und dann, im Black, auch seinen Oberkörper. Spieler und Puppe zeigen und erkennen einander. Der Tanz beginnt von Neuem und entfaltet eine befreite Leichtigkeit.

Am Ende erscheinen flimmernde Lichtflecken auf dem Zeltobjekt, die auch über Gesicht und Körper von Spieler und Puppe wandern. Die ausführliche Beschreibung der szenischen Vorgänge mag deutlich machen, in welchem Maße die Handlung aus sich verändernden Haltungen und Konstellationen besteht. Zu dieser Dramaturgie trägt auch die subtile Lichtregie von Joachim Fleischer bei, die in einem filmisch anmutenden Wechsel von Hell und Dunkel und der Segmentierung von Räumen durch Licht Beziehungsmuster stets neu auslotet und akzentuiert. Die Beziehung zwischen Spieler und Figur bleibt fluide und dynamisch. Und obwohl die Transformationsmomente kleine Kulminationspunkte im Bühnengeschehen sind, schließen sie keinen Handlungsbogen ab; sie eröffnen vielmehr Räume für neue Verwandlungen.

EVOKATION – Der imaginäre Körper
„Die Protagonisten (…) zeichnen sich durch einen körperlosen Körper aus, durch die Unmöglichkeit, in einem vollständigen menschlichen Körper zu leben (…). Sie übersteigen den Körper, verlieren Teile ihres Körpers oder tauschen ihn gegen etwas anderes aus (…)“ – so die Dramaturgin Jutta Wangemann über Hans Christian Andersens Märchenfiguren. Das Leipziger Ensemble Schroffke! scheint sich diesen Blick auf Andersens „Kleine Meerjungfrau“, die hier den geschlechtsneutralen Namen »Undin« trägt, als Inszenierungsansatz zu eigen gemacht zu haben. Ihre Meeresgestalt ist ein phantomhaftes (Un-)Wesen, das in einem großen, nicht einsehbaren Tank in der Mitte der Bühne als Stimme oder möglicherweise auch als Meerschaum haust. Den sich transformierenden Körper der Meerjungfrau, der zwischen Fisch und Mensch fluktuiert, in der Erzähltradition der Märchen aber deutlich weiblich konnotiert bleibt, verwandelt Schroffke! in einen imaginären Körper, den es zu evozieren und neu zu begreifen gilt. Um diesen Körper zu erforschen, haben sich die beiden Spieler*innen Franz Schrörs und Liesbeth Nenoff mit Laptops und Soundequipment als wissenschaftliche Beobachter*innen zu den beiden Seiten des Bassins platziert.

In einer Mischung aus Feldversuch und Séance versuchen sie mittels Klang, Gesang, geloopten und verstärkten Geräuschen dem Wesen eine Gestalt zu geben. Dabei fallen sie immer wieder mal aus der Rolle, füttern das unsichtbare Wesen mit Fischfutter, lassen Mikrofone in die Tiefe hinab oder performen Songs. Und sie spielen mit unserer Vorstellung, welche Art von Wesen denn den Meeres- oder Bühnengrund bewohnen könnte. Nach einigen fruchtlosen Beschwörungsversuchen taucht schließlich einer der beiden Spieler*innen in den Tank hinab, um ihm kurz darauf als fischartiges Alienwesen wieder zu entsteigen.

Die schöne Pointe dabei: der Tieraspekt verkörpert sich nicht in einem Fischschwanz, sondern in einem monströs goldfischartigen Fischkopf. Der konsequenterweise nicht in der Lage ist, sich in Menschensprache zu artikulieren und sich nur über Klänge verständigen kann. Diesem Klangkosmos gehört auch das Objekt an, das sich am Ende aus dem Tank herausschält: eine Art überdimensionaler Kokon aus mit Tönen belegten Saiten, dem die zweite Spielerin Klänge entlockt, zu denen sie singt. So bleibt „Undin“ am Ende zwar nicht ganz körperlos, aber ein ungreifbares Wesen von großer Ambiguität und Fluidität – angesiedelt zwischen Klang- und Objektwelt.

Bei aller Unterschiedlichkeit ist den drei Inszenierungen eines gemeinsam: Sie verstehen den Körper als etwas Vorläufiges, dessen verschiedene Ausformungs- und Wandlungstendenzen es zu erfassen und zu gestalten gilt. Den künstlichen Körper – die Puppe, das Objekt, das Material – in seiner transformatorischen Potenz dabei noch stärker in den Fokus zu nehmen, könnte dem Figurentheater möglicherweise eine neue utopische Kraft verleihen. Vielleicht wäre dies der nächste Schritt im Transformationsprozess einer überaus dynamischen und wandlungsfähigen Theaterform.
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Katja Spiess ist Leiterin des FITZ – Theater animierter Formen in Stuttgart, das gemeinsam mit dem Westflügel Leipzig und der Schaubude Berlin die Allianz internationaler Produktionszentren für Figurentheater bildet. In ihrer Inszenierungsbetrachtung versucht sie, die in den „Figure it out“-Workshops erprobte Rolle der „forschenden Beobachterin“ mit ihrer ausgeprägten Leidenschaft für Interpretation in Einklang zu bringen.