Jörg Lehmann: Ikarus, ein mythischer Stoff – klassische Frage: Warum? Und warum genau dieser?
John von Düffel: Die Geschichte von Dädalus, dem Erfinder, der nicht nur seinem Sohn Ikarus “Flügel verleiht”, sondern auch für den mächtigen König Minos alles Mögliche erfindet, ist eine Geschichte des Fortschritts in all seiner Zweischneidigkeit. Diese Ambivalenz von Macht- und Möglichkeitsgewinn auf der einen Seite sowie Schuld und Tod auf der anderen Seite hat mich sehr interessiert. Fortschritt, das wussten die alten Griechen, bedeutet Grenzüberschreitung und somit auch Grenzverletzung. Und kaum ein Mythos schildert diese Grenzverletzungen drastischer. Denn Dädalus erfindet nicht nur das Fliegen nach Art der Vögel, sondern auch eine Sexmaschine nach Art der Stiere. Er baut der Königin Pasiphae, die in Liebe zu einem Stier entbrannt ist, eine Kuhattrappe, in der sie sich von dem prächtigsten Stier Kretas begatten lässt. Daraufhin bringt sie den Minotaurus zur Welt, einen berserkerhaften Stiermenschen, der in ein Labyrinth gesperrt werden muss – ebenfalls eine Erfindung von Dädalus. Eine Überschreitung zieht die andere nach sich …

Jörg Lehmann: In meiner Jugend habe ich »Die drei Musketiere« verschlungen; ohne mich zu fragen, warum mein Held eigentlich im Titel nicht vorkommt. In Deinem Stück ist es anders: Ikarus steht darüber, aber er spielt nicht (mehr) mit. Was ist Ikarus für das Stück? Der tragische Bruchpilot, der die Hybris des Vaters ausbaden musste, eine Art Vertreter der letzten Generation?
John von Düffel: Ikarus ist der ikonische Tote der Geschichte, insofern bildet er die Leerstelle im Zentrum. Das Stück folgt einerseits dem Vater, der seinen Sohn verloren hat, in die Trauer um Ikarus‘ Tod und in die Befragung der eigenen Schuld. Andererseits erzählt es den Weg von Dädalus zum größten Erfinder der Antike als eine Geschichte der Abhängigkeiten und Zwänge. Er ist ein unfreier Erfinder, und was er hervorbringt, ist Segen und Fluch zugleich. Die Ungerechtigkeit in der Geschichte besteht darin, dass die Macher und Nutznießer des Fortschritts meist nicht die Opfer sind. Die Leidtragenden sind die anderen – zum Beispiel die nachfolgenden Generationen wie beim menschengemachten Klimawandel.

Jörg Lehmann: Antike, Mythos, die letzten Fragen: Welche Bilder hattest Du beim Schreiben im Kopf? Da ich Dein Interesse für das Theater der Dinge kenne – ist die Umsetzung Deines Stückes gerade mit diesen Theatermitteln naheliegend – vielleicht sogar intendiert?
John von Düffel: Die Drastik dieser Fortschrittsgeschichte geht ins Phantastische, in Entgrenzungen von Mensch, Tier und Gott – mal abgesehen davon, dass Dädalus selbst ein Maler und Bildermacher war. Die Bilder in meinem Kopf waren grell, extrem, teilweise sogar comichaft. Fast so, als würde beim Schreiben eine Gothic-Novel mit Toga-Trägern mitlaufen. Vielleicht gibt es wegen dieser Extreme keine antike Tragödie mit Dädalus als Held, eben weil die Zuspitzungen auch krass komisch sind – und weil Sophokles nicht über Sodomie schreibt. Deswegen freue ich mich so auf die Bildlichkeit, die mit Puppenspielkunst und dem Theater der Dinge entstehen kann – eine, die sich nicht nur auf der Bühne abspielt, sondern auch in den Köpfen der Zuschauenden.

Jörg Lehmann: Den Regisseur Nis Søgaard interessiert für seine aktuelle Arbeit mit Deinem Text vor allem die Frage der Schuld: Die Generation Dädalus hinterlässt den nächsten Generationen riesige Baustellen. Ironie der Geschichte: Der Kleber, der bei Ikarus zu Wasser wird, haftet heute auf dem Asphalt, um Bewegung aufzuhalten. Wohin führt Fortschrittsgläubigkeit? Die Hybris des Erfinders? Hat Dich dieser Aspekt auch beim Schreiben umgetrieben, immerhin ist der Text bereits 2019 geschrieben.
John von Düffel: Mit Blick auf unsere Verantwortung stellen sich aus meiner Sicht zwei große Fragen: Ist es richtig, alles zu erfinden, was erfunden werden kann? Und: Ist es richtig, alles zu benutzen, was erfunden worden ist? Mit KI haben wir ja gerade eine parallele Diskussion und sogar den Versuch eines Moratoriums, weil das Erfinden schneller geht als die Entwicklung eines Regulativs im Umgang mit KI und ihren unabsehbaren Folgen. Bei Waffen stellt sich die Frage auch: Oppenheimer, der Erfinder der Atombombe, wollte die Erfindung der Wasserstoffbombe verhindern, weil er glaubte, die Menschheit sei nicht verantwortungsvoll genug, um damit umzugehen. Es ist also nicht nur eine Frage von wenigen Wissenschaftler*innen, sondern eine politische, gesellschaftliche, weltgemeinschaftliche.

Mein Optimismus diesbezüglich war schon 2019 nicht besonders groß. Inzwischen bin ich bei dem ungläubigen Kichern und Kopfschütteln angekommen, das der Mythos anfangs bei mir ausgelöst hat. Der Atomwaffensperrvertrag – eine der wenigen Errungenschaften der Vernunft – wackelt. Und das von Anfang an falsche Versprechen der Atomkraft von »billiger, unerschöpflicher Energie« wird ideologisch rehabilitiert. In Deutschland gibt es inzwischen mehr Gegner als Befürworter des Atomausstiegs (einem seltenen Akt der Vernunft), obwohl der Supergau des AKWs von Saporischja wie ein Damoklesschwert über allen Köpfen schwebt und wahrscheinlich nach dem Staudamm das nächste Werk der Ingenieurskunst sein wird, das zerstört wird und zerstört. Und trotzdem glauben mehr Menschen denn je an die Sicherheit von Atomkraft? Das heißt aus meiner Sicht, dass die Ambivalenz des Fortschritts in den Zustand der kollektiven Schizophrenie übergegangen ist.
John von Düffel ist Autor, Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und hat eine Professur für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin.
Jörg Lehmann ist Dramaturg und Regisseur im Schauspiel, Puppen- und Figurentheater und lehrt Dramaturgie und Theatergeschichte an der HfS Ernst Busch Berlin.
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»IKARUS«
Puppen-, Objekt- und Maskentheater mit Videoinstallation von John von Düffel
Vorstellungen:
30.6., 20:00 Premiere
1.7., 20:00
2.7., 19:00
7.7., 20:00
8.7., 20:00 mit Audiodeskription
Studioinszenierung 3. Studienjahr, HfS Ernst Busch, Zeitgenössische Puppenspielkunst, Berlin
Spiel Madita Kuhfuhs, Almut Schäfer-Kubelka, Leon Schamlott, Annika Schaper, Laura Schulze, Tizian Steffen, Sven Tillmann/ Regie Nis Søgaard/ Bühne, Kostüme, Puppenentwürfe Jonathan Gentilhomme/ Dramaturgie Jörg Lehmann/ Musik Lukas Streich/ Puppenbau Lili Laube/ Regieassistenz Sonja Keßner/ Aufführungsrechte Rowohlt Verlag/ Koproduktion mit HfS Ernst Busch