R eise: Unfreiwillig und ins Unbekannte, denn ihre Heimat wird vom Krieg überrollt. Im Verlauf der Flucht verliert das kleine Mädchen beide Eltern und muss sich fortan allein durchschlagen. Das Boot, das sie und ihren neu gefundenen Freund über das Meer bringen soll, erleidet in den stürmischen Fluten Schiffbruch. Gegen ihren Willen werden die beiden in ein Lager gebracht und dort getrennt. Sie kann in letzter Sekunde den Gefahren des Lagers entkommen und irrt allein durch den Wald, nur um dort wiederum in die Fänge von Menschenhändlern zu geraten. Doch erneut gelingt ihr die Flucht. Erschöpft findet sie sich schließlich am Boden wieder, durchwühlt den Müll auf der Suche nach etwas Essbarem – und stößt stattdessen auf ihren verlorenen Freund, dem die Flucht ebenfalls gelungen ist.
All das erinnert die Großmutter, als das Enkelkind im Spiel auf verschiedene Gegenstände stößt.

E rinnerung: Die kleine Puppe und das gerahmte Bild der Mutter sind mehr als Erinnerungen an das verlassene Zuhause. Sie sind Glücksbringer im Geflüchtetenlager, Mutmacher im finsteren Wald, Anker auf stürmischer See. Der Geschmack des Lollis erinnert an unbeschwertere Zeiten einer viel zu kurzen Kindheit. Und jetzt gerade, hier gemeinsam mit dem Enkelkind, ist alles gut.

B ühnenraum: Eine vielschichtige Anordnung. Vorne links der Musiker mit seinen Instrumenten, rechts daneben eine halbhohe, waagerechte Spiel- und Projektionsfläche auf der die Erinnerungen an die lange zurückliegende Flucht zum Leben erweckt werden. Schräg darüber ein holografischer Spiegel, der die verschiedenen Ebenen der Vergangenheit als Mischung aus Puppen- und Objekttheater, Schattenspiel und Animationsfilm zusammenführt. Das Geschehen lässt sich so aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Hinter dem Spiegel dann eine weitere, erhöhte Spielfläche, auf der Einblicke ins Heute der Geschichte gegeben werden und dahinter wiederum eine Leinwand für Projektionen. Die Vergangenheit überlagert die Gegenwart; die Gegenwart scheint durch die Vergangenheit hindurch.

E nsemble: Die Hauptfiguren – Großmutter, Enkelkind, Mädchen, Freund. Daneben – Gesichtslose Mitflüchtende, jagende Hunde, ein weiteres schutzsuchendes Kind in der Gegenwart. Dahinter – Spieler*innen, die schwarz kostümiert und mit verdecktem Gesicht im Hintergrund die Geschicke der Puppen lenken oder kostümiert zu Mitspieler*innen werden: Als liebevolle Eltern etwa, oder als übermächtige, uniformierte Kräfte, die sich den getriebenen Kindern in den Weg stellen.

T aumel: Das Wechselspiel einer odysseehaften Reise. Zutiefst zerstörerischen Kräften ausgesetzt sein, von einer Situation in die nächste geworfen werden und doch immer wieder im richtigen Moment kurz die Kontrolle zurückerobern können. Glück im absoluten Unglück. Längst nicht alle Geschichten dieser Art verlaufen so. Diese hier geht gut aus.
I nstrumente: Eine elektrische Gitarre, deren Saiten mal die scharfen Gewehrschüsse und Bomben der Kriegsmaschinerie, mal die rauh-wirbelnde, tosende See oder den unheimlich rauschenden Wald bei Nacht intonieren. Die Stempel der Bürokratie geben im Lager den Ton an, sie stampfen und stampfen und stampfen. Und als Erinnerung an vergangene Zeiten: Die melodischen, harfenähnlichen Klänge der traditionellen griechischen Laterna.

K länge: Griechische und osmanische Musiktraditionen vereinen sich im titelgebenden Rebetiko. Eine Musik, die durch Vertreibung und das Zusammentreffen verschiedener Kulturen entstanden ist, und die Menschen durch schwerste Zeiten begleitet hat.

O rt und Zeit: Universell. Längst vergangen und doch immer wieder aktuell; beständig lodernd oder neu entflammend, in so vielen Ländern dieser Welt.
Gesprochen wird nicht. Von Unsagbarem zu erzählen, heißt hier, Bilder zu finden, Assoziationen und Emotionen zu evozieren – kurz: Spielräume zu schaffen.
Christina Röfer ist Mitglied der double-Redaktion und arbeitet beim Fonds Darstellende Künste. Sie ist immer wieder fasziniert von den eindringlichen Möglichkeitsräumen, die das Figuren- und Objekttheater im Kleinen eröffnen kann, um die großen Themen unserer Welt zu verhandeln.
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»Rebetiko«
Anima Théâtre
Autor: Panayotis Evangelidis/ Spiel: Magali Jacquot, Irene Lentini/ Komposition und Live-Musik: Nicolo Terrasi/ Regie: Yiorgos Karakantzas/ Technische Leitung: Thomas Moch/ Bau der Puppen und der Ausstattung: Demy Papada, Dimitris Stamou (Merlin Puppet Theatre)/ Lichtdesign: Jean-Louis Floro/ Videodesign: Shemie Reut/ Konstruktion der Laterna: Panos Ioannidis/ Musikaufnahme: Katerina Douka (Stimme), Christos Karypidis (Oud), Tassos Tsitsivakos (Bouzouki)/ Kostüme: Stéphanie Mestre/ Bühnenbau: Sylvain Georget, Patrick Vindimian/ Assistenz: Mara Kyriakidou/ Administration: Stéphanie Plasse/ Gastspielmanagement: Les Gomères, Nadine Lapuyade/ Produktion: Maureen Pette, Anima Théâtre
Koproduktion mit
La Garance – Scène nationale de Cavaillon, Vélo Théâtre – Scène conventionnée théâtre d’objet – Apt (gefördert von Arsud), La Tribu – Le spectacle vivant en PACA à destination du jeune public, Pôle Art de la Scène – Friche Belle de Mai – Marseille, 3 bis f – lieu d’arts contemporains – Aix-en-Provence, L’Entre-Pont – lieu de création spectacle vivant pluridisciplinaire – Nice
Gefördert von
Ville de Marseille, Direction régionale des affaires culturelles Provence-Alpes-Côte d’Azur, Conseil départemental des Bouches-du-Rhône, Région Sud, Institut Français, Adami, SPEDIDAM, Fonds pour la Création Musicale (FCM)
Unterstützt von
Festival Mondial des Théâtres de Marionnettes – Charleville-Mézières, La Chartreuse – Centre national des écritures du spectacle – Villeneuve-lez-Avignon, Le Jardin Parallèle – lieu-compagnie missionné compagnonnage – Reims, Le Tas de Sable-Ches Panses Vertes, lieu-compagnie missionné compagnonnage – Amiens, Théâtre Durance – Scène conventionnée d’intérêt national art et création – pôle de développement culturel – Château-Arnoux-Saint-Auban, Théâtre de Cuisine – Marseille, Théâtre Massalia – Scène conventionnée d’intérêt national art, enfance et jeunesse – Marseille, Théâtre de la Colonne – Scène conventionnée d’intérêt national Art en territoire – Régie culturelle Scènes et Cinés – Territoire Istres Ouest Provence – Miramas