Wenn alte Unterdrückung nicht vor neuer Unterdrückung schützt/ When old oppression does not prevent from new oppression – Erfahrungsbericht von Yasmine Salimi zu HOW TO F*** UP THE REVOLUTION (de/en)

(English version below)

Revolution, die.

Bedeutungsübersicht1

1. die bestehende politische und soziale Ordnung grundlegend verändernder, oft gewaltsamer Umsturz oder Umwälzungsprozess
2. grundlegende Veränderung, tiefgreifender Wandel bestehender Verhältnisse auf dem Gebiet der Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Kultur, Moral, des Denkens o. Ä., besonders durch Einführung von etwas Neuem ⟨die industrielle Revolution⟩
3. [Astronomie, veraltet] Umlaufbewegung eines Himmelskörpers um einen anderen, insbesondere eines Planeten um die Sonne
4. [selten] [Skat] Null ouvert Hand (ohne Aufnahme des Skates), bei dem die gegnerischen Spieler Karten untereinander austauschen dürfen

Das hier ist kein Skat, aber trotzdem ein Spiel, das etwas mit einer Revolution zu tun hat: How to F*** up the Revolution. Das Erzähl- und Rollenspiel wurde von der Künstler*innengruppe Uncertain Studio aus Taiwan entwickelt, die auch mit ihrer neuen Produktion „Collection of Time in the Polymer Age“ bei der diesjährigen Ausgabe von Theater der Dinge zu erleben war.

Die Plätze waren so begrenzt, dass es schon eine Mischung aus Glück, Privilegien, Zusammenarbeit und Kalkül brauchte, um überhaupt dabei zu sein. Disclaimer: Ich gehöre zum kuratorischen Team des Festivals und hatte die Einladung des Spiels nach Berlin mit auf den Weg gebracht. Da ich bisher jedoch keine Gelegenheit gehabt hatte, es selbst zu erleben, habe ich mir einen der kostbaren Plätze ergattert.

Angekündigt war, dass die fiktive Ausgangssituation in diesem Spiel eine Revolution ist, in der sich zwei gegensätzliche Lager gebildet haben. Sie ringen um die Macht über den postrevolutionären Status Quo.

Die Lagerbildung im Angesicht eines umwälzenden historischen Moments hat eine bittere Aktualität, die in der Vorbereitung des Festivals nicht absehbar war. Wir wollen als Gesellschaft eine grausame Gewaltgeschichte hinter uns lassen, aber unter denen, die das ernst meinen, möchten die einen nur den Staat aus Nachfahren der größten Opfergruppe schützen, während die anderen auch verhindern wollen, dass in deren Namen weitere Gewalt und Grausamkeiten begangen werden. Wir erleben gerade in Echtzeit, wie aus der Erfahrung von Verfolgung und Unterdrückung ein Vorwand für neue Verfolgung und Unterdrückung hergeleitet wird.

Der Hintergrund für die Entwicklung dieses Spiels ist allerdings ein anderer: der sogenannte Weiße Terror in Taiwan, die politischen Verfolgungen und Ermordungen vermeintlicher Kommunist*innen und Regimegegner*innen unter der autoritären Herrschaft der Kuomintang-Partei und ihrer Militärgerichte in Taiwan von 1949 bis 1991, eine Zeit, die von einem generellen Klima der Angst und der Beschneidung von Freiheiten geprägt war. Auch wenn das Spiel vom Erbe dieser gelebten Erfahrung genährt ist und mit Nachfahren von Opfern und Täter*innen erprobt wurde, ist die Kenntnis dieser Situation nicht notwendig, um mitzuspielen. „How to F*** up the Revolution“ lebt gerade von seinem Abstraktionsgrad und der Übertragbarkeit auf vielfältige andere politische Situationen und Erfahrungen.

In dem Moment, wo wir uns im KON-Zimmer der Schaubude um den Küchentisch herum versammeln, können wir das alles erst einmal hinter uns lassen. Die Tabula Rasa liegt offen vor uns und es liegt an uns, sie neu zu beschriften: Für die erste Etappe, das Worldbuildung, schreiben wir Spieler*innen ein paar Grundbedingungen dieser alternativen Welt auf Post-Its und kleben sie auf den Tisch. Unsere Revolution, so hatte es unsere Tischgesellschaft zuvor entschieden, war bedingt durch „Too Much Garbage“. Die vorherige Regierung wurde gestürzt, weil es zu viel Müll gab. So fiktiv scheint diese Welt dann also doch nicht zu sein. Jetzt haben sich zwei Lager gebildet: Die eine Seite ist reich und will den Müll weiter verarbeiten, weil sie davon profitiert. Die andere Seite will den Müll insgesamt reduzieren, also weitere Müllbildung vermeiden – das ist unser Lager, wir sind alle auf derselben Seite. Wir sind „die Guten“. Oder?

In einem nächsten Schritt nach dem ersten Worldbuilding kriegen wir alle einen eigenen Charakter, eine Figur. Damit wir diese nicht einfach nach unseren eigenen Vorlieben formen können, würfeln wir, welche unsere höchsten und niedrigsten moralischen Werte sind: Bei mir ist Autorität der höchste Wert und Loyalität am niedrigsten. Auf so eine Konstellation wäre ich selbst nie gekommen – ich merke, wie hier ein ganz bestimmter Spielraum für mein Handeln abgesteckt wird. Und das zwingt mich quasi zur Fantasie: Meine Figur muss von der eigenen Familie traumatisiert worden sein, wahrscheinlich war sie Teil des Müll-Imperiums. Und jetzt hat sich Lino (so der Name meiner Figur) von der alten Familie abgekehrt (illoyalerweise) und eine neue Familie in der Revolutionsführung gefunden, die gleich einer Sekte eine neue Orientierung bietet (weswegen Lino auch so autoritätshörig ist). Die Verteilung der Werte dazwischen können wir selbst bestimmen: Weitere moralische Kriterien sind Gerechtigkeit (Fairness), Reinheit bzw. Ursprünglichkeit (Purity), Freiheit (Freedom) und Empathie bzw. Mitleid (Compassion).

Jetzt wird es spannend und auch ein wenig kompliziert. Von Runde zu Runde versuchen wir Anliegen durchzusetzen und neue Bedingungen unserer Welt zu erfinden. Wir müssen uns entscheiden, ob uns der offizielle Weg in Form eines ersten Würfelns reicht, oder ob wir bei Misserfolg unsere zusätzliche Macht einsetzen wollen und noch ein zweites Mal würfeln, um unsere Maßnahme durchzusetzen, was aber jedes Mal ein Opfer von neuer Unterdrückung fordern wird.

Dabei entwickeln sich interessante Dynamiken zwischen unseren fiktiven Figuren. Eine Biologin setzt sich für die Gleichberechtigung aller Lebewesen ein und ist ein bisschen misstrauisch gegenüber ihrem Nachbarn, dem sie unterstellt, er könnte in ihrer gemeinsamen Kindheit für den Tod ihrer Katze verantwortlich gewesen sein. Den beweislos Beschuldigten trifft das so sehr, dass er die katzentötenden Energien der anderen Mitspieler*innen aufzudecken versucht. Eine andere Spielerin hatte entschieden, dass es in dieser Welt keine Polizei gibt, möchte aber deswegen unbedingt eine neue Müll-Polizei einführen. Meine autoritätsliebende Figur fühlt sich zu dieser Polizei hingezogen, ihr Freiheits-Wert ist aber zu hoch, um Teil von ihr zu werden, denke ich. Eine andere Spielerin hatte dafür gesorgt, dass wir Kinder in der Regierung haben und ist überzeugt, dass unsere Hoffnung in den jüngeren Generationen liegt.

Wir sind ganz bei der Sache und versuchen mit allen Mitteln unsere Visionen und Maßnahmen durchzusetzen. Am Ende kommt heraus, dass unsere Gruppe eine ungewöhnlich hohe Unterdrückungsrate aufweist: 150%. Das ist doppelt so hoch wie bei der Gruppe vor uns. So schnell kann das gehen.

Yasmine Salimi war in diesem und im vergangenen Jahr als Festivaldramaturgin bei Theater der Dinge tätig. Ihre liebsten und herausforderndsten Spielräume liegen zwischen Theater, Texten und Diskursen, zwischen den Sprachen und Welten.

1 Vgl. https://www.dwds.de/wb/Revolution, abgerufen am 9.11.23.

Foto Titelbild: Chien Che Tang

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Revolution

Overview of meanings1

1. a cataclysmic process or an often violent upheaval fundamentally changing the existing
political and social order
2. fundamental change, profound shift in existing conditions in the field of science, technology, economy, culture, morality, thought, etc., especially through the introduction of something new ⟨the industrial revolution⟩
3. [astronomy, obsolete] orbital motion of one celestial body around another, especially of a planet around the sun
4. [rare] [Skat] Null ouvert hand (without taking up the Skat), in which the opposing players are allowed to exchange cards with each other

This isn’t Skat, but it’s still a game that has something to do with a revolution: “How to F*** up the Revolution”. The storytelling and role-playing game was developed by the artist group Uncertain Studio from Taiwan, who also performed their new production “Collection of Time in the Polymer Age” at this year’s edition of Theater der Dinge.

Seats were so limited that it took a mixture of luck, privilege, collaboration and strategy to even be there. Disclaimer: I am a member of the festival’s curatorial team and was involved in inviting the game to Berlin. However, as I hadn’t had the opportunity to experience it myself, I managed to get one of the precious seats.

It was announced that the fictional starting point of this game is a revolution in which two opposing camps have formed. They are fighting for power over the post-revolutionary status quo.

The polarization of society in the face of a historical turning point has a bitter topicality that was not foreseeable in the run-up of the festival. As a society, we want to put a cruel history of violence behind us, but among those who are serious about this, some only want to protect the state made up of descendants of the largest group of victims, while others also want to prevent further violence and atrocities from being committed in their name. We are witnessing in real time how an experience of persecution and oppression is being used as a pretext for new persecution and oppression.

However, this game was developed with a different background: the so-called White Terror in Taiwan, the political persecutions and murders of alleged communists and opponents of the regime under the authoritarian rule of the Kuomintang Party and its military courts in Taiwan from 1949 to 1991, a time characterized by a general climate of fear and the curtailment of freedoms. Even though the game is nourished by the legacy of this lived experience and has been tested with descendants of victims and perpetrators, knowledge of this situation is not required to take part in the game. “How to F*** up the Revolution” thrives on its degree of abstraction and its transferability to a variety of other political situations and experiences.

​The moment we gather around the kitchen table in the KON room of the Schaubude, we can leave all that behind us. The tabula rasa lies open before us and it’s up to us to inscribe something new: For the first stage of worldbuilding, we write a few basic conditions of this alternative world on post-its and stick them on the table. Our revolution, as our community of players gathered around the table had previously decided, was caused by “Too Much Garbage”. The previous government was overthrown because of too much garbage. Maybe this world isn‘t that fictitious after all. Now two camps have formed: One side is rich and wants to continue processing the garbage because it profits from it. The other side wants to reduce waste overall, and avoid further waste generation – that’s our camp, we’re all on the same side. We are “the good ones”. Right?

In the next step after the initial worldbuilding, we all get our own character. In order to avoid that we simply shape them according to our own preferences, we roll the dice to find out about our highest and lowest moral values: For me, authority is the highest value and loyalty is the lowest. I would never have come up with such a constellation myself. I realize how this is defining a very specific scope for my actions. This wiggle room forces me to fantasize: My character must have been traumatized by their own family, who was probably part of the garbage empire. And now Lino (my character’s name) has turned their back on the old family (illoyally) and found a new family in the revolutionary leadership, which offers a new orientation, just like a sect (which is why Lino is so submissive to authority). We are now free to determine how the values in between are distributed: Other moral criteria are Fairness, Purity, Freedom and Compassion.

From now on, things are getting exciting and a little complicated. From round to round, we try to make requests and invent new conditions for our world. We have to decide whether we comply with the official way, which consists in rolling the dice once, or whether we want to use our additional power if we fail, and roll the dice a second time to enforce our measure, which will require a new victim of oppression every time we make use of that power.

Interesting dynamics unfold between our fictional characters. A biologist advocates equal rights for all living beings and is a little suspicious of her neighbor, whom she accuses of being responsible for the death of her cat during their childhood. The player accused without evidence is so affected by that allegation that he tries to uncover the cat-killing energies of the other players. Another player has decided that there is no police force in this world, but is determined to introduce a new garbage police instead. My authority-loving character is attracted to this police force, but their freedom value is too high to become part of it, I think. Another player had ensured that we have children in our government, and she isconvinced that our hope lies in the younger generations.


We are fully committed and try to implement our visions and measures by any means necessary. In the end, it turns out that our group has an unusually high oppression rate: 150%. That’s twice as high as the group before us. It can happen that quickly.

1 According to https://www.dwds.de/wb/Revolution, accessed on November 9, 2023.

Yasmine Salimi worked as a festival dramaturg at Theater der Dinge this year and last year. Her favorite and most challenging wiggle rooms lie between theater, texts and discourses, between languages and worlds.

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»How to Fuck up the Revolution«
Uncertain Studio

Spielentwicklung und Moderation: Tao Chiang, Yen-Ting Tseng

Gefördert von
National Culture and Arts Foundation Taiwan, Taishin Bank Foundation for Arts and Culture

https://uncertainstudio.blogspot.com/