Das Spiel um Leben und Tod – Poem zu TRIA FATA von Esther Nicklas

  1. Leben

Vier Schicksalsfäden spannen sich zum Himmelszelt empor
und malen Zirkus in die Bühne
Die Tobsucht peitscht aus der Musik
Das Schlagwerk treibt sie an
Gespielt von einem Zügellosen
Er jagt mit seiner Klarinette das Akkordeon
und seine Füße
hetzen
die Trommel auf

Im Marktgeschrei lädt er zu einer Schlacht
In der das Leben seinen Tod verkloppt
Wildfröhlich schreit ein Jahrmarkt von Gefühlen
das Lied der Straße durch das Zirkuszelt

Die Spielerin taucht auf, taucht wieder ab
mit einer Puppe
auf der Hand, die Nonsens treibt
Ist das der Kaspar
als Sensenmann verkleidet?

Er will mit seiner Sense
die Spielerin verdreschen
Das Bild kreischt schief und wird ermordet
Die Spielerin enthauptet ihn

Mit einem Zug köpft sie den Tod von ihren Fingern
und lässt ihn körperlos zurück
Der Totenkopf fliegt in den Schrank
Kopflos die Puppe
Das leere Puppenkleid
schwebt durch die Szenerie

Die Stille hat den Krach verbannt
Jetzt spielt die Spielerin den Tod
Sie trägt die Todesmaske unterm Hut
Und reicht dem Musiker die Hand

Das wilde Lied in ihm verstummt
Der Tod entlässt den Musiker
aus seinem Händedruck
und richtet seinen Blick ins Publikum

Unter den Lebenden in ausverkauften Sesseln
ist keine Spur von Furcht
sie lachen, feixen, freuen sich
über den Nonsens
an dem das schwere Thema baumelt
ganz leicht geworden
kichern sie
dem Tod ins Angesicht

Der Tod sitzt auf dem Schrank
in seiner Hand das leere Puppenkleid
in dem der Kaspar auch mal Tod spielen wollte
Er rollt den Schicksalsfaden auf
an dem die nächste Puppe hängt
Ein Rollstuhl
darin sitzt eine Miniatur von Frau

  1. Sterben

Das Spiel um Leben oder Sterben
verdichtet sich in einem Licht
Jetzt schon? fragt
die namenlose Puppenfrau
den Tod
Ich bin noch viel zu jung
Das muss ein Irrtum sein
Ich habe noch Gemüse
den Garten
Und der Hund?
Ganz sicher haben sie sich da geirrt
Madame la Mort

Sie reicht dem Tod ihr rechtes Bein
Hier nehmen Sie, Madame
als Anzahlung
Und ich erzähle Ihnen noch
etwas aus meinem Leben
Dann komme ich mit Ihnen

Madame la Mort schlägt ein
in diesen Packt
die Todgeweihte plappert los
Ach wissen Sie, Madame
alles begann sehr sonderbar
Ich kam recht merkwürdig
zur Welt

  1. Gebären

Die schwangere Puppe muss
im Alleingang
Mutter werden
sie betet
greift zum elektrischen Gerät
und öffnet sich den Leib
Das Baby kriecht heraus
und saugt der Mutter
die Ohnmacht aus ihren Brüsten

Die Mutter tackert sich den Bauch
erfreut sich ihrer neugewonnenen Freiheit
und schmeißt das Baby weg
ins Leben
Das Baby
gekettet an der Mutter Nabelschnur
fliegt
es fliegt der Mutter um die Ohren

Die Götter schicken eine Schere
aus dem Bühnenfirmament
Befreit sind Mutter und auch Kind
das Baby fällt ins Leben

  1. Pubertät

Ein junges Puppenmädchen tanzt
Im Herzschlag ihrer Spielerin
Die sexuelle Aufklärung
entführt es in die Schattenwelt

„Théâtre de la métamorphoses“
Steht in Kreidestreifen
Über der Kasperbühne
die aus Schatten spricht

Das Mädchen wird als Flachfigur
zum Schatten ihrer selbst
Der Mythos reitet ins Spektakel ein
verpuppt sich erst als Drache
dann als Prinz

Der Drache speit
dem flach geword`nen Mädchen
die Fresslust übern Leib
Das Mädchen wird zur Frau
und Retter Prinz
kommt auf dem Schattenpferd geritten
Das Märchen ist zu Ende

Und die Moral
die gibt es nicht
Reifen
heißt ja auch
ein bisschen
Sterben

  1. Liebe

Das Mädchen ist zur Frau gereift
Jetzt spielt die Spielerin die Frauenrolle
Wird zur Geliebten
haucht dem Liebsten
Zärtlichkeiten in sein Mikrophon
Schallwandeln

Die Worte wachsen in den Raum
verdichten sich
und schwellen an
Poème d’amour

Der Musiker erwidert
Ihre Liebe
bläst Küsse
in die Klarinette

Ein Flug
Ein Kreisel
Dann ein Sturz
Der Liebste fällt in falsche Hände
Madame la Mort
Sie, fing ihn damals auf

  1. Schmerz

Ach, das ist lange her
erzählt die Todgeweihte
Nachdem mein Liebster starb,
er starb in meinen Armen,
wollt ich das Leben in den Händen halten
und wurde
Hebamme

Madame la Mort
Hier nehmen Sie’s als Pfand
Sie reicht dem Tod
ihr linkes Bein
noch eine
Anzahlung

Sie geben mir
noch fünf Minuten
Dann
gleite ich mit Ihnen
in die
Ewigkeit

  1. Erinnerung

Bild um Bild
rinnt sie vorbei
verschwimmt in den Begegnungen
zerläuft zwischen Gelebtem
und
nicht gelebtem Leben
strahlt ihre lichten Wünsche
in das Helle
verkümmert im
Erhofften
und findet
das Verlorene in einem
anderen Geschenk

Aufbrüche enden
Sackgassen gebären neue Wege
Was jetzt folgt
ist die
Dunkelheit

  1. Abschied

Gehen wir
Madame

Madame la Mort
zündet das Totenlicht
auf eine Kerze
versinkt mit ihrer Hand
im leeren Körper
der todgeweihten Puppenfrau

Die Hand greift durch
den Leib
und fasst das weiße Blatt
das auf dem Schoß
der Todgeweihten wartet
ballt es zu einem Herz
aus Hand und Schlag

Die Herzhand schlägt im Takt der Trommel
Einmal
Zweimal
Dann fängt das Herzblatt Feuer
brennt
zerfällt
und wird zu
Asche

Esther Nicklas ist Puppenspielerin, Malerin und Choreografin. Sie schreibt Hörspiele, Gedichte und Theatertexte. Ihr Lieblingsspielraum ist die interdisziplinäre Spielwiese zwischen bewegter Farbe, gehörtem Bild und animiertem Material. Sie liebt es mit Worten zu tanzen und das Material sprechen zu lassen.

Fotos (Titelbild, 3, 4, 6-10): Compagnie La Pendue

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»Tria Fata«
Compagnie La Pendue

Spiel: Estelle Charlier, Martin Kaspar Orkestar/ Projektmanagement: Estelle Charlier/ Regie: Romuald Collinet/ Regiemitarbeit: Pavlina Vimmrova/ Musik: Martin Kaspar Orkestar/ Text, Draufblick: Romaric Sangars/ Lichtdesign, Technische Leitung: Anthony Lopez/ Puppen, Szenografie: Estelle Charlier, Romuald Collinet/ Technik: Anthony Lopez, Andi Luchsinger/ Administration: Patricia Lecoq/ Produktion: Théâtre de l’Homme Ridicule/ Koproduktion mit: Le Tricycle Grenoble

Gefördert von
SPEDIDAM, Institut français

Unterstützt von
Département de l’Isère, Stadt Winterthur, Théâtre du Temple de Saillans, les Ateliers de Couture et de construction de la Ville de Grenoble

https://www.lapendue.fr/