Zuerst bin ich allein. Nicht mehr in der Stadt, der Straßenbahn, oder dem Foyer der Wabe, sondern ganz allein: in einem kleinen Zimmer, mit Kopfhörern, eine Frau spricht zu mir oder zu sich selbst. Sie erzählt einen Traum: eine lange Fahrt in einem Schneelift, sie hat die falsche Kleidung an, unter einem Kreuz liegt ein Kind begraben im Schnee.
[Achtung, der Text enthält Spoiler!]
Während ich zuhöre, betrachte ich das Modell eines Lifts: über einer weißen Schneedecke zwei kleine Figürchen kurz vor der Ankunft auf der anderen Seite. So wie bekanntlich jeder allein stirbt, so bleibe ich auch in den folgenden Räumen der Installation allein. Lichtsignale zeigen mir an, wann ich in dem installativen Hörspiel weitergehen darf. In den Räumen treffe ich vereinzelte Dinge, die mal lose, mal eng im Bezug zum Erzählten stehen: ein Paar leerer Pantoffeln (ich bin sicher, noch warm von ihrem Träger); eine Kinderzeichnung, in der ein Mann und ein Hund drohen zu ertrinken; eine Käferstraße. Manchmal wechselt die Lichtstimmung und die Dinge enthüllen ein zweites Gesicht: Die Käfer werden im Dämmerlicht gespenstisch, ein Glasfenster wird zum Spiegel, in einem Röntgenbild multiplizieren sich die Zähne.
In »Nettles« steht die ganze Untröstlichkeit des Sterben-Müssens auf dem Spiel. Des Eigenen, das deutet der Traum am Anfang an, aber vor allem auch das der anderen, hier des Vaters. Die Anekdoten, Überlegungen und Träume der Erzählerin kreisen um die Unwiderruflichkeit des Verlustes, seiner Unzugänglichkeit und des damit verbundenen Dranges zu wissen: Was heißt das, zu sterben, und was macht es mit den Hinterbliebenen? Trauer wird nicht als eine frontale Überwältigung inszeniert, nicht als die großen Gefühle von Schreien und Weinen, sondern als langsames, vorsichtiges Kreisen um einen Verlust, der als Unverständlichkeit ins Leben bricht.
Diese Unverständlichkeit führt in »Nettles« nicht zur stumpfen Ergebenheit gegenüber dem absurden und unausweichlichen, sondern scheint auf eine tiefe Verbundenheit zwischen dem Rätselcharakter der Kunst und dem des Lebens hinzudeuten. Der Tod erscheint als Frage, die in kleinen Szenen und Bildern immer wieder neu artikuliert wird: In einer Anekdote über eine Gruppe von Kindern, die Käfer aufspießen, um genau den Moment deren Todes abzupassen. In der Frage, ob man auch dann noch zur Waise wird, wenn man beim Tod des Vaters schon vierzig Jahre alt ist. In dem Bild, dass das menschliche Leben zerbrechen kann wie eine Salzstange: knack.
Die beiden Tendenzen des installativen Hörspiels bleiben in Spannung. Tod und Trauer versehren das menschliche Leben ohne Sinn. Nichts klärt sich, keine Geschichte nimmt Gestalt an, nichts wird besser. Dieser Zustand ist jedoch nicht nur desaströs, sondern geradezu physiologische Bedingung menschlicher Schöpfungskraft: Das reicht von den Träumen der Hauptfigur, über die Kinderspiele, über das Erzählen, bis hin zu der Installation selbst, die schließlich nichts anderes tut als ihre Hauptfigur und wir als ihre Besucher*innen. Gegen Ende des Stückes heißt es, dass das Gehirn, wenn es vom Fallen träumt, Generalproben für das Sterben inszeniert. Dass diese Generalproben nicht dem Tod angehören, nicht bloßes Desaster sind, sondern die schöpferische Kraft des Lebens selbst ausmachen – das hätte ich nicht gedacht, erfahren zu können.
Text: Sebastian Köthe vom Redaktonsteam, Fotos: CCRZ
Nettles
Theaterinstallation für je eine Person von TricksterP, Schweiz. Vorstellungen bei Theater der Dinge 2019: 25. bis 27.10., insgesamt 27 Zeitfenster für je sechs nacheinander eingelassene Personen. Spielstätte: Wabe.
Koproduktion mit: LuganoInScena, Teatro Sociale Bellinzona, Theater Chur, ROXA Birsfelden, TAK Theater Liechtenstein, FOG Triennale Milano Performing Arts
Gefördert von: Pro Helvetia – Swiss Arts Council, DECS Repubblica e Cantone Ticino – Fondo Swisslos, Municipality of Novazzano, Fachausschuss Tanz & Theater BS/BL, Percento culturale Migros, Göhner Stiftung, Landis & Gyr Stiftung, Fondazione Winterhalter
Konzept, Umsetzung: Cristina Galbiati, Ilija Luginbühl
Dramaturgie: Simona Gonella
Stimmen: Dorit Ehlers (Deutsch), Gabriella Sacco (Englisch)
Künstlerische Mitarbeit: Yves Regenass, Mamoru Iriguchi
Soundscape: Zeno Gabaglio
Soundbearbeitung: Lara Persia – Lemura Recording Studio
Gastspiel mit freundlicher Unterstützung von: Pro Helvetia