Ein aus Draht und Metallohren zusammengestecktes Kaninchen sagt den Schlüsselsatz, den Alice Through the Looking Glass bereits 1865 zu hören bekommt: »Du weißt doch genau, dass Du nicht wirklich bist.« Was die Protagonistin des viktorianischen Zeitalters umtreibt, ist auch 2020 der Beginn einer surrealen Reise, die das kleine Mädchen jedoch nicht ins Wunderland, sondern in den Cyberspace führt.

Das weiße Kaninchen, das zu Beginn noch wie ein Objekt von Hagens Körperwelten aussieht, wandelt sich schnell in eine plüschige Marionettenfigur, die nun ebenso wie eine Alicepuppe von den Figurenspieler*innen über eine nachtschwarze Bühne geführt werden. Auf ihr sind vier verschieden große Bildschirme aufgestellt, die sowohl Requisit, Bühnenraum als auch Protagonisten sind. In der ersten Szene stellen sie das weltberühmte Loch, in das Alice fällt und durch das sie zu einer Fernsehfigur mutiert. Der Identitätsverlust, der Lewis Carolls Werken als Schlüsselmotiv eingeschrieben ist, findet hier als ein lost in media statt: Alice wechselt als Puppe, Bild und reale Gestalt nicht nur ihre Größe, sondern immer wieder ihre Materialität.

Als Fernsehfigur kann sie über die vier Bildschirme sogar wirklich auseinandergenommen und wie ein Teleskop zusammengesteckt werden – eine der berühmtesten Szenen Carolls, die nur bei Tim Burton richtig geklappt hat. Die Animation erhält auf der Bühne noch deutlicher den Weg in die ›richtige‹ Welt und lässt so die ohnehin brüchigen Grenzen des Wonderlands in unsere Gegenwart fließen: Sind wir nicht alle bereits von unseren eigenen Animationen umgeben? Oder, wie die Ankündigung des Stückes fragt: Ist Alice vielleicht nicht die Einzige, die im Cyberland verloren geht?
Diese rethorische Frage scheint Hauptanliegen der beiden Medienkünstler Iris Meinhardt und Michael Krauss und ihrer Übertragung des Alice-Stoffes zu sein. Die komplexe Geschichte geht daher bisweilen in den einzelnen, äußerst beeindruckenden medialen Inszenierungen unter, wird aber über das Spiel mit dem nachtschwarzen Hintergrund, den wechselnden Bildschirmen, Roboterelementen und dem anwesenden Duo immer wieder neu transformiert: Alice‘ Reise von einer Figur zur nächsten – u. a. der Raupe, der Grinsekatze und dem Hutmacher – wird durch das intermediale Wechselspiel stärker als Übergangsraum, als rites des passages offenbar. Das junge Mädchen muss sich sowohl gegen die strengen und oft verrückt wirkenden Regeln der Erwachsenen als auch die Zerstreuung und das Verrücktwerden durch die Medien wehren.
Wenn zum Beispiel die Bildschirme einen Wald imitieren, indem sie Bäume zeigen, die nur in Ausschnitten und durch langsame Kamerafahrten zu sehen sind, wird schnell klar, wie unwirklich unsere Wirklichkeit durch die Gucklöcher unserer Kommunikationsmittel ist. Der Satz: »Du weißt doch, dass Du nicht wirklich bist«, mit dem eigentlich Dideldei und Dideldum Carrolls Alice in den Wahnsinn treiben wollen, wird auf der Bühne zum wahren Wissen um eine Realität, die bereits aus tausenden Puppen, Spielkarten und digitalen Alice-Formaten besteht.

In den letzten 150 Jahren hat Carrolls Alice unzählige Wandlungen durchgemacht: Vom farbenfrohem Disney-Film über surrealistische Stop-Motion-Experimente und Tim Burtons 3D-Fantasy, wurde sie 2000 zu einem Videospiel, das deutlich dunklere Töne anschlägt: Bei McGee ist das Mädchen eine Vollwaise, deren Erinnerung an den Unfall der Eltern, Ziel ihrer Trips durch ein gruseliges Wonderland, ist.
Wie das Original und die medialen Adaptionen wird auch Meinhardts und Krauss’ Alice zu einer psychologischen Traum(a)reise, die allerdings diesmal auf die Wunde der Gegenwart weist: Nicht mehr genau zu wissen, wo man wirklich ist – auf Instagram? Im Chatraum? Bei seinen Freunden zu Hause oder im World Wide Web?
Alice ist in dem Theaterstück von 2020 eben nicht einfach nur ›in‹, sondern wirklich schon ›lost in‹ Cyberspace. Auch wenn sie sich gerade durch diese Gaming-Komponente ihr Leben zurückerobern kann: Zum Ende nutzt sie die Spielkarten als Laufband und kabelt das Roboterherz der roten Königin einfach aus. Sie schafft also in der Gegenwart einen Sieg, den Gilles Deleuze bereits der viktorianischen Alice zugeschrieben hat: »Alice erobert nach und nach Oberflächen. Sie steigt auf oder kehrt an die Oberfläche zurück. Sie schafft Oberflächen« und lässt damit die abgrundtief wahnsinnigen Figuren und Medien zurück.

Julia Boog-Kaminski ist Literaturwissenschaftlerin und kann nur mit einem schottischen Bach im Ohr einschlafen.
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A.L.I.C.E. Lost in Cyberland
Regie: Iris Meinhardt
Spiel: Luis Hergón, Coline Petit
Video: Katharina Wibmer
Figurenbau: Alice Therese Gottschalk, Iris Meinhardt
Szenografie: Michael Krauss
Musik und Komposition: Thorsten Meinhardt
Robotik: Nils Bennett, Alice Therese Gottschalk, Michael Krauss
Kostüm: Tiara Mana
Licht, Technik: Nadja Weber
Koproduktion mit FITZ! Zentrum für Figurentheater Stuttgart, Schaubude Berlin, TAK Theater Liechtenstein, wunder. Internationales Figurentheaterfest München
http://www.meinhardt-krauss.com
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