
Wenn jede Projektion auf meinen Körper ein Körperbild schafft – wie viele Körper bin ich dann? Und was mache ich mit diesen Bildern? In der Galerie speichern? Wenn jeder Körper hundertfache Abbilder innehat und produziert – durch wie viele Körperhüllen muss ich mich schälen, Hautschichtenmäntel abwerfen und Organe durchkämmen, um das Ich, das ich sein will, zu finden?
Wer war zuerst da – der Körper oder das Ich? Was ist mein Ich ohne meinen Körper – eine antriebslose Seele? Mein Körper ohne mein Ich eine gefühllose Maschine? In diesem Verhältnis entsteht die Reibung, der Mensch ist Leib und hat den Körper. Bin ich mein Körper und wer verfügt über ihn? Ist er ein Abziehbild gesellschaftlicher Projektionen? Wie viele figurale Kunstkörper aus Objekten muss ich bauen, um mich in ihnen wiederzuerkennen? Was passiert mit dem Rest des Körpers, der nicht in das Zoom-Quadrat im Netz passt?
Ein aufgeladener Bedeutungsträger, wortloser Erzähler, Spuren der Biografie zeichnen sich ab. Tiefe Einkerbungen von Scham und Abwertung treten hervor, wie auch Linien der Zugehörigkeit und sexuelle Gebrauchsspuren. Der Körper ist porentiefe Identitätsstiftung, mannigfaltiger Funktionsprozess, organischer Einsatzort, Magnet der Vorurteile, Handlungskatalysator, Plattform der Kunstfreiheit sowie Sendungsstätte der gesamten Kommunikation oder wie Paul B. Preciado fragt: »Können wir also weiterhin vom menschlichen Körper sprechen, als gäbe es einen und nur einen Körper?«
Der Körper, eine arbeitende Fabrik, ist umgeben von kleinen Hilfsbegleitern, die sich als Alltagsobjekte an den Körper schmiegen; eingespeist, eingeseift, angedockt, aufgesetzt, reingeschoben. Findet ein Objekt, das repräsentiert, was euren Körper künstlich macht! Alle springen aus ihrem Zoom-Quadrat und begeben sich auf die Suche nach ihrer alltäglichen Künstlichkeit. Alle finden was. Alle sind künstlich. Der Körper nur am Eilen, Schuften, Tüfteln, Funktionieren ist angewiesen auf sie – die helfenden Objekte im Untergrund.
Zeit für Dank an die Zahnschiene gegen das nächtliche Knirschen, schiebt sie sich doch zwischen das gestresste Malmen. Mit Ohrstöpseln und Augenmaske ist die nächtliche Ruhe nur als Cyborg möglich. Zeit für Dank an Haarseife und Massageöl, deren künstliche Konsistenz den Körper wohltuend erfrischen. Rasierer unter die Arme geklemmt. Dort verschaffen sie mehr Bewegungsunfreiheit als lange Achselhaare es tun würden, schützen aber doch vor bösen Blicken. Auf der Objektbühne imaginieren wir ein Puppenwesen mit pinken, fremdkörperartigen Rasierklingengliedmaßen und Rüssel im Gesicht. Der Zwang zur Rasur steht ihm ins Gesicht geschrieben, gelenkt durch fremdbestimmte Steuerungsprothesen gegen die Natürlichkeit des Wachsens.

Das skulpturale Puppenwesen »Pocopelo« steht für den umstrittenen Rasierkult und entstand während des Theorie Cafés.
Das Handy als künstliche Verlängerung des Armes ist die dritte Hand, ohne die die Welt verstummen würde. Der Helm ist der Panzer des Kopfes, der sich schützend um ihn hüllt, zu verletzlich alles darin. Auf der Bühne imaginieren wir ein käferartiges Geschöpf in fahrradhelmartiger Rüstung bereit zum Angriff, diesmal wird es nicht auf den Rücken fallen. Die Insulin-Pumpe atmet eng am Körper. Eine Kugel im Gelenk sorgt in den nächsten Jahren für einen reibungslosen Bewegungsablauf. Ein Kupferball stellvertritt das einverleibte Verhütungsmittel gegen Spermien. Nagellack verschafft Finger an Händen, die für einen Moment nicht die eigenen sind. Ein Hakama stabilisiert den Stand, Bluetooth-Boxen werden zu personifizierten Kolleg*innenersatz im Lockdown, das Gebiss ist mit Keramik aufgepeppt.
Zeit für Dank an die Metobeta 100 mg, die Schmerzfreiheit schenken, jedoch nur im Tausch gegen die Lust. Auf der Objektbühne imaginieren wir ein riesengroßes, plastisches Gehirn, das Tabletten in sich einwerfend um Migräneentlastung bittet. Auf einer anderen Bühne eine Sammlung von Brillen. Beim Aufsetzen der Brille erfährt man, was durch die Gläser gesehen wurde. Brillen als Speichermedium für Erinnerungen statt nur Brücke für müde Augen.
Nicht nur diese Prothesen als Hilfsbegleiter, Utensilien, schützenden Instrumente machen den Körper künstlich, auch die Sozialisierung, Geschlechtervorstellungen, wiederhergestelltes Verhalten, kopierte Gesten, auferlegte Masken, ein antrainierter Habitus sind versteckte, unbewusste Künstlichkeiten, die den Körper prägen. Wann beginnt das Künstlich-Werden? Ist der Körper jemals natürlich? Wann brauchen wir diese Unterscheidungen?
Der Allgegenwärtigkeit von somatischen Künstlichkeiten durch dieses Spiel bewusst geworden, fragen sich die Teilnehmenden des Theorie-Cafés, wo der Körper anfängt und wo er aufhört. Sie selbst begegnen einander in quadratischen Körperausschnitten im virtuellen Raum und formen sich zu einem Diskurskörper. Inspirationsquelle dafür ist ein Textauszug aus »Ein Apartment auf dem Uranus« vom Queertheoretiker und Philosophen Paul B. Preciado, der in der radikalen Gegenüberstellung von Körperskizzen provoziert.
Im vorgelesenen Text erscheinen Körper als Rechtssubjekte, gekoppelt an Menschenrechtsfragen, als Projektionsfläche und Aushandlungsort für politischen Diskurs im Kampf um Anerkennung und Akzeptanz, in Reibung mit Arbeitsbeziehungen, im Streit um Eigentum, im Ausloten von Macht- und Gewaltverhältnissen. Ist der Körper Herrscher oder Sklave?
Oft wird die Aufmerksamkeit erst auf den Körper gelenkt, wenn er nicht mehr funktioniert, aus dem Raster fällt, auf Widerstände trifft, Krisen durchlebt. Die Beschäftigung mit Preciado regt dazu an, das eigene Körperbild nicht stagnieren zu lassen, sondern dieses stetig zu befragen.
Eine der Körperskizzen lässt sich auf die offenen Fragen im Raum übertragen, die beim Schließen der digitalen Fenster nachhängen: »Die einen ziehen sich an, um nackt zu sein, die anderen ziehen sich aus, um verhüllt zu bleiben.«
Anna-Luisa Scholze ist Theaterwissenschaftlerin und angehende Theaterpädagogin mit laut atmenden Alltagsobjekten um sich herum.
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Theorie-Café: Text und Körper
Konzeption und Moderation: Beate Absalon, Sebastian Köthe
7.11.2020
Paul B. Preciado. Textauszug »Körper, die sich bewegen«, Zürich 10. November 2017, aus: Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Frankfurt/Main: 2020,S. 321-324.
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