Sayeh Sirvani in Zusammenarbeit mit Yasmine Salimi
Die Performance »Tiefenrausch« (»L’Ivresse des profondeurs«) von Sayeh Sirvani steckt voller Märchen, die voller Realität sind. Sie hat ihre eigene symbolische Bildsprache, die auch durch liebevoll gearbeitete Objekte und Zeichnungen, Puppen und Kostüme zu uns spricht.
In diesem Beitrag eröffnet jedes Bild einen eigenen Blick auf die Welt von »Tiefenrausch«, eine Performance, die stark inspiriert ist von den Märchen von 1001 Nacht, von der Kultur, Geschichte und Politik des Irans. Sie ist unter dem Eindruck der niedergeschlagenen Proteste von 2019 entstanden, denen laut der Nachrichtenagentur Reuters 1500 Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Performance trägt das Leid in sich, das sich dieser Tage wiederholt. Und die Hoffnung, die im Erzählen, Sprechen und im Zusammenhalt liegt.

Scheherazade
Eine Scheherazade, die Geschichten zu erzählen hat.
Geschichten, die nicht einfach nur Geschichten sind.
Es ist Leid, das sie in Worte übersetzt.
Es ist die Vergangenheit und das Heute, in der Hoffnung darauf, dass morgen endlich die tausendunderste Nacht anbricht.

Erde aus flüssigem Schwarz
Dies ist ein Ort auf der Erde.
Gefüllt mit Leben, Träumen, Poesie.
Wir lebten an diesem Ort, aber an diesem Ort ist immer irgendwo…
Krieg, ist immer Blut.
Wie kann ich dir erklären, wie lebendig diese Erde ist und wie tot, wie vereint und wie vernichtet, wie leuchtend und wie schwarz?
Selbst tausende und abertausende Kilometer entfernt von dieser Erde werden ihre Schmerzen immer unsere Schmerzen bleiben.

Das ist für die Mütter des Aban
Für die Mütter der Getöteten des Monats Aban, der Monate Azar, Bahman, Esfand, Farvardin, Ordibehesht, Khordad, Tir, Mordad, Shahrivar, Mahr. Für die Mütter, die Gerechtigkeit fordern!
Für all die Mütter und Väter, deren Herzen in jedem Monat des Jahres weggerissen werden.

Sterne in der Nacht
Jedes Bild hat seine eigene Geschichte. Von dem kleinen Mädchen im Koffer bis zu dem Mann, der zu einer Meerjungfrau wurde. Vom finsteren Monster bis zu den kleinen Fischen mit phosphoreszierender Haut, die das Licht der Oberfläche bis ins tiefste Wasser tragen. Geschichten wie die Sterne schwarzer Nächte.

Die Wolken sind Zeug*innen
Sie sind die Dämpfe der traurigsten Tränen.
Süße Wolken, die schreien, um das Gedächtnis der Geschichte in die Puppen gleiten zu lassen, um nicht zu vergessen, um nicht in die Dunkelheit abzugleiten.

Die Haut von Scheherazade
Es gibt Namen, Worte und Schmerzen, die wir immer mit uns tragen werden. Es ist, als wären sie an unser Leben genäht, an unsere Vergangenheit und an unsere Zukunft.

Du Du Du Du Du
Scheherazade erzählt jede Nacht Geschichten und näht dabei Puppen. Sie füllt sie mit den Wolken, die Zeug*innen sind. Jede Puppe ist die Erinnerung an ein Leben.

Damit sie nicht vergessen werden
…Shahla, Navid, Mahsa, Hadis, Siavash, Ali, Hananeh, Sarina, Ghazaleh, Mohamad Hosein, Minoo, Arash, Arman, Ebrahim, Abolfazl, Aboobakr, Ahmad, Behnam, Asma, Neda, Moslem, Farid, Nika, Mahsa, Zakaria, Omid, Samer, Reza, Parsa, Fereidoon, Azar, Javad, Fariba, Hosna, Saeed, Zinab, Amir, Zhina, Mina, Mehrzad, Maryam, Maziar, Golnar, Nikta, Farjad, Milad, Danesh, Bina, Milan, Zahra, Armita, Mona... Sag ihre Namen, die Namen freier Menschen voller Leben und Hoffnung. Um all jene nicht zu vergessen, die keine Held*innen in Geschichten sind, sondern Märtyrer*innen auf dem Weg der Freiheit. Sag ihren Namen, um nicht zu vergessen.
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Sayeh Sirvani studierte in Teheran und Charleville-Mézières Puppenspiel und interessiert sich in ihrer Arbeit für Stoffe und deren Texturen, für Kostüme und die Transformation von Puppe und Körper. Mit »L’Ivresse des profondeurs«/»Tiefenrausch« ist sie erstmalig in Deutschland zu sehen.
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Yasmine Salimi ist die Dramaturgin des diesjährigen Festivals »Theater der Dinge«. Sie arbeitet und forscht an der Schnittstelle von Theorie und Praxis, Theater und Text, Deutsch und Französisch. Sie ist in unterschiedlichen Kontexten als freie Dramaturgin tätig, u. a. als Teil des Berliner Figurentheaterkollektivs manufaktor. Im vergangenen Jahr war sie als Co-Projektleitung des ersten Jahrgangs der Akademie Kunst und Begegnungen vom Bündnis internationaler Produktionshäuser tätig. Zuvor hat sie u. a. mehrere Jahre lang in der Dramaturgie am Ballhaus Naunynstraße gearbeitet. Sie hat verschiedene Theaterstücke aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Aktuell lebt sie in Berlin.
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»L’Ivresse des profondeurs«/»Tiefenrausch«
Samstag, 5.11., 20:00*, Schaubude Berlin, *Deutschandpremiere & Publikumsgespräch
Spiel, Regie, Ausstattung
Sayeh Sirvani
Texte
Mahmoud Ahadinia, Leyla Hekmatnia
Übersetzung, Adaption
Coraline Charnet, Sayeh Sirvani
Produktion
Festival mondial des Théâtres de Marionnettes
Koproduktion mit
Le Tas de Sable – Ches Panses Vertes Amiens, Direction régionale des Affaires culturelles France
Gastspiel mit freundlicher Unterstützung durch das Institut français und das französische Ministerium für Kultur.
Fotos: Tristan Lacaze
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#theaterderdinge2022