Endlich hat das alte Theater vergessen, dass es eine Landschaft aus Ruinen ist. Alina Lebherz über TEATRO AMAZONAS

Das Stück »Teatro Amazonas« gehört zum Genre des dokumentarischen Theaters. Historische und politische Ereignisse werden in dieser Theaterform Inbezugnahme authentischer Dokumente, Bilder und Zitate möglichst akkurat wiedergeben. Das chilenisch-katalanische Duo Azkona & Toloza wirft in »Teatro Amazonas« die Frage auf, ob und inwieweit es möglich ist, dabei dominierende Narrative und Perspektiven zu durchbrechen. Indes findet auch eine Reflexion über die Rolle des Theaters selbst statt.

Foto: Tristan Perez-Martin

Ausgangspunkt der Recherche der beiden Künstler:innen bildet das Teatro Amazonas in der brasilianischen Stadt Manaus. Das pompöse Theater- und Opernhaus wurde im 19. Jahrhundert nach europäischem Vorbild mitten im Amazonas für eine weiße Elite gebaut. In Deutschland wurde das Theater spätestens im Jahr 1982 durch den Film „Fitzcarraldo“ von Werner Herzog bekannt. Anhand des Teatro Amazonas entwerfen Azkona & Toloza ein Kaleidoskop einer 400-jährigen Geschichte kolonialer Gewalt, aber auch einer Geschichte der Widerständigkeit – wohl wissend, dass sie selbst mit ihrem Projekt auch in die Fußstapfen von Kolonialist:innen treten.

Fotos: Tristan Perez-Martin

Die Inszenierung folgt einem pluralen Zeitverständnis. Die Geschichte hat also mehrere Anfänge und mehrere Enden, die in Gleichzeitigkeit nebeneinander existieren. So beginnt das Stück zum einen im Jahr 2019 mit dem besagten Rechercheprojekt in Manaus, zu einem Zeitpunkt als Jair Bolsonaro Präsident in Brasilien ist. Das Stück beginnt zum anderen mit der kosmischen Ursprungserzählung der Tukano, die eine Welt beschreibt, in der es zunächst keine klaren Grenzen zwischen Raum und Zeit und zwischen Tieren und Menschen gibt. Hier tritt der Jaguar, der auch Mensch ist, als Schützer von Harmonie und Gerechtigkeit auf. Drittens beginnt die Geschichte mit der sogenannten „Entdeckung“ des Amazonas im 16. Jahrhundert von weißen Europäer:innen, die von da an systematisch Menschen, Tiere und Pflanzen unterwerfen und Ideen von Fortschritt und Ordnung mitbringen.

Die beiden Künstler:innen übersetzen und erklären viele indigene Begriffe nicht. So entstehen wertvolle Momente der Irritation und der Verunsicherung. Azkona & Toloza zeigen, dass es, zumindest ansatzweise, durchaus möglich ist, dominante Sprachen und damit auch hegemoniale Weltanschauungen zu brechen. Auch durch abrupte Perspektivwechsel gelingen solche Momente der Desorientierung. Vieles muss aber auch erklärt werden, damit das Publikum inhaltlich folgen kann. So wirkt das Stück teilweise wie eine Lehrveranstaltung. Dies soll nicht als Kritik an der Inszenierung, sondern als Kritik an dem System verstanden werden: Dass Menschen, die Gewalt erfahren, sich oftmals um des eigenen Überlebenswillens das Wissen von ihren Unterdrücker:innen aneignen müssen, wohingegen umgekehrt die Notwendigkeit nicht besteht, ist bekannt. Azkona & Toloza gelingt es, diese ungleichen Machtverhältnisse erfahrbar zu machen.

Foto: Tristan Perez-Martin

Das Bühnenbild ist schlicht gehalten. Mit einem Klebeband ziehen die beiden Künstler:innen zunächst feine Linien auf den Boden, die an den weit verzweigten Amazonas erinnern. Hier siedeln sich im Laufe der Inszenierung kleine Häuschen an. Stück für Stück werden Dörfer gebaut, die wiederrum zu großen Städten anwachsen. Figuren gibt es auf der Bühne nicht. Nur die beiden Performer:innen bewegen sich auf der Bühne und vervollständigen in einem stetigen Prozess das Bühnenbild. So ragen dann später auch Fabriken und Wolkenkratzer mit scharfen Spitzen in den Raum der Bühne hinein. Eine Industrielandschaft entsteht. Zu dem Zeitpunkt sind viele Indigene bereits tief in den Amazonas geflohen. Einige verwandelten sich auf ihrer Flucht in Jaguare, so heißt es. So kann sich dann auch erst in dem Moment, als der Erzählfaden der Tukano weitergeführt wird, die Bühne transformieren: Die Stück für Stück zusammengesetzten Häuser und Fabriken wachsen zwar stetig weiter, aber plötzlich nicht mehr nur in die Höhe, sondern auch krumm und schief zur Seite. Auf einmal, obwohl sich kaum etwas verändert hat, erinnern sie an Gräser und an Büsche. Ein Jaguar betritt die Bühne.

Foto: Tristan Perez-Martin

Die Vision eines zertrümmerten Theaters und einer Bühne, die von den vertriebenen Pflanzen, Tieren und Menschen zurückerobert wird, ist jedoch nur eins der vielen Enden dieser Inszenierung. In einer anderen Zeit brennt der Regenwald weiter und eine Pandemie breitet sich aus. Ari Uru, Lehrer und Umweltaktivist wird ermordet. Und die Präsident:innenschaftswahlen beginnen. Hier schließen Azkona & Toloza die Inszenierung mit dem eindringlichen Appell, nicht wegzusehen und zu handeln.

Ein drittes Ende wiederrum thematisiert im Kontrast dazu die Wichtigkeit des Scheiterns. Im Unterschied zu „Fitzcarraldo“, dem Kautschukbaron, der ein Schiff über einen Berg transportieren wollte, um ein Opernhaus nach dem Vorbild des Teatro Amazonas mitten im Dschungel zu bauen, haben die beiden Performer:innen es ihren eigenen Angaben nach „nicht geschafft“ ihr eigenes „Schiff“ über den Berg zu bringen. Wir beide sind gescheitert, so sagen sie. Weiß man um die Geschichte ihrer historischen und fiktiven Vorgänger:innen, ist dies jedoch eine gute Nachricht und macht diese Inszenierung umso empfehlenswerter.

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Alina Lebherz ist Kulturwissenschaftlerin und forscht am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam über verschiedene Formen des Wissens. Die Klimakrise und ihre eigenen Verstrickungen darin verunsichern sie sehr.
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»Teatro Amazonas«
Azkona & Toloza, Katalonien

Spiel, Regie, Stückentwicklung Laida Azkona Goñi, Txalo Toloza-Fernández/ Sprecher*innen deutsche Fassung N. N./ Regieassistenz Raquel Cors/ Literaturrecherche Leonardo Gamboa/ Produktionsdesign Elclimamola/ Musik Rodrigo Rammsy/ Soundkonzept Juan Cristóbal Saavedra/ Lichtdesign Ana Rovira/ Lichttechnik Conrado Parodi/ Video MiPrimerDrop/ Szenografie Azkona & Toloza, Xesca Salvà/ Kostüme Sara Espinosa/ Produktionsleitung Spanien Helena Febrés/ Produktionsleitung international Théâtre Garonne – scène européenne, Toulouse/ Übersetzungen aus dem Portugiesischen Livia Diniz/ Übersetzungen aus den Tucano-Sprachen Joao Paulo Lima Barreto/ Erzähler Pedro Granero/ Illustrationen Jeisson Castillo/ Fotos Tristán Pérez-Martín/ Deutsche Übersetzung Miriam Denger/ Koproduktion mit Festival Grec Barcelona, Théâtre de la Ville Paris, Festival d’Automne Paris, Théâtre Garonne – scène européenne, Toulouse, Marche Teatro, Inteatro Festival, Antic Teatre Barcelona/ In Zusammenarbeit mit DNA Creación 2019, Azala Espazioa, El Graner – Mercat de les Flors, La Caldera, Teatro Gayarre, Nave, Centro de creación, Innova Cultural gefördert von Fundación Bancaria Caja Navarra und Obra Social »la Caixa«/ Die Deutschlandpremiere wird präsentiert in Kooperation mit euro-scene Leipzig/ Das Gastspiel wird unterstützt durch das Institut Ramon Llull.