Ich betrete das Dunkel. Zusammen mit den anderen Zuschauenden bewege ich mich vorsichtig durch einen Raum, dessen Konturen im dichten, lichtlosen Nebel nicht erscheinen wollen. Ich taste mich nach vorne und langsam differenziert sich das Schwarz. Drei Körper zeichnen sich ab: platziert auf einem Podest, einem Stuhl und einem Pferd. Im hinteren Teil des Raumes sind Modellierungen von Denkmälern projiziert. Ton-Krach durchzieht den Raum, ich denke an den Galopp eines Pferdes, ins Monströse verzerrt.

Foto: Silke Haueiß
Die drei Körper, es sind die der Schwarzen Performerinnen Naomi Boima, Sarah Ama Duah und Rositsa Mahdi sind in grüne Latexkostüme gekleidet. Die Kostüme ziehen sich durch einen versteckten Saugmechanismus hauteng zusammen, durch Kleinstbewegungen schaffen sich die Performerinnen wieder Raum. Obwohl sie sich so als Statuen selbst modellieren, bleiben ihre Versuche, Raum zu schaffen, durch das Latex limitiert. Wo sich ihre Körper durch den angesaugten Stoff abzeichnen, wirken sie mehr-als-menschlich: als wären die Gedärme nicht am rechten Fleck und würden unter dem Latex aus dem Körper quellen. Was ist eine menschliche Gestalt? Was bedeutet die Verunsicherung, die ein solches Aufbrechen klassischer Formen des Menschlichen hervorruft?

Foto: Kara Bukowski
»to build to bury to remember« gibt keine einfachen Antworten, allein schon weil sich die Performance im Sichtbaren und Hörbaren abspielt und auf Sprache – jenseits des Titels – verzichtet. Und die titelgebenden Tätigkeiten schillern ohne Subjekt, ohne Objekt: Ist das building von Statuen immer ein Akt der gewaltsamen Festschreibung von hierarchisierten Bedeutungen oder lassen sich auch fluide Statuen denken? Wer oder was wird von wem wo vergraben? Lässt sich der verordneten Staatserinnerung in Form von Denkmälern, aber auch Straßennamen und Unterrichtskanons, eine Gegenerinnerung entgegenstellen? Würde eine solche Gegenerinnerung nur anderes erinnern oder auch anders erinnern?

Die Augen haben sich inzwischen gewöhnt, das Dunkel ist nuanciert. Obwohl Hinzuschauen also möglich wird, bleibt es unangenehm, die drei Frauen zwischen Mensch und Statue anzuschauen. Einerseits haben sie sich auf Podeste gestellt und laden zum Schauen ein. Andererseits kommt mir das Glotzen, gerade in meiner Situierung als weiß und cis-männlich, die ich intensiv spüre, vulgär vor. Ich weiß nicht, ob ich eine Selbstermächtigung oder eine Selbstverdinglichung bezeuge – dass es beides gleichermaßen ist, scheint logisch unmöglich, ästhetisch aber gegeben. Die ethische Herausforderung einer Selbstproblematisierung des Blicks erinnert mich an Ludomir Franczaks Inszenierung »Gutta«, die wenige Tage vorher im selben Raum im Tatwerk gezeigt wurde. Franczak hatte die Geschichte einer Schwarzen Frau, Gutta, erzählt, deren menschlichen Überreste bis heute in einem Prager Museum ausgestellt werden. Hinzuschauen bedeutete hier einerseits den Versuch einer Rekonstruktion ihrer Geschichte und der Anerkennung ihres Schicksals. Andererseits lag im Schauen immer das Risiko, die Entmenschlichung zu wiederholen. Auch in »to build to bury to remember« sehe ich mir selbst beim Sehen zu: Ich sehe, wie sich die Frauen in Statuen, dazu noch in Reiterstatuen verwandeln, traditionelle Bilder männlich-weißer Dominanz über rassifizierte Menschen, dienlich gemachte Tiere und ganze Ökosysteme. Ich sehe, wie die Statuen durch den Latex, die Verformungen und die Gesichter der Performerinnen neue Bedeutungen annehmen.

Foto: Silke Haueiß
Überraschend beginnen sich die drei Performerinnen die Latexanzüge abzustreifen. Die alienhaften Formen ihrer Körper entpuppen sich als Abdrücke symbolisch aufgeladener Gegenstände: einer Kette mit Plastikobst, einem Tropenhelm und einem Steckenpferd. Die drei Frauen bewegen sich auf dem Podest, dem Stuhl, dem Pferd. Sie reizen den Bewegungsspielraum der immobilisierenden Sockel aus, ehe sie langsam – tranceartig, wie hypnotisiert – absteigen. Sie öffnen den Mund und von der Spitze ihrer Zungen schauen Augäpfel zurück ins Publikum. Es ist der unmenschliche Blick eines dritten Auges, das nicht zu blinzeln braucht. Wie ein Talisman bricht es den Blick des Publikums. Die Performerinnen gehen unter dem Schutz des dritten Auges vorsichtig durch die Zuschauenden, ehe sie sich um das Pferd versammeln. Die zuvor vereinzelten Körper kreisen um das Pferd, umarmen und streicheln es. Trauern sie darum, dass sich das Pferd nicht auch verlebendigen kann? In die Umkreisung der Tierskulptur mischen sich zärtliche Berührungen der Hände, Handgelenke, Arme. Diese liebevollen Gesten scheinen das radikal Andere des vorherigen Arrangements zu sein. Hier geht es nicht ums Sehen, Erkennen, Wissen, um Schauende und Angeschaute, hier geht es auch nicht mehr um eine Kritik oder Befragung der (kolonialrassistischen) Faszination mit Latex, Schwarzer Haut oder Weiblichkeit. Die Performerinnen sind wie abgewandt vom Blick des Publikums. Der Bann ist – für den Moment – gebrochen. Irgendwann verschwinden die drei in die dunkelsten Ecken des Raumes, die Soundcollage endet. Applaus, aber sie zeigen sich nicht mehr.

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Sebastian Köthe ist Kulturwissenschaftler an der Zürcher Hochschule der Künste und Redakteur des Theater der Dinge-Blogs. Er fragt sich, wann Verunsicherung produktiv und wann lähmend ist.
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»to build to bury to remember«
Sarah Ama Duah, Deutschland
Konzept Sarah Ama Duah, Sointu Pere/ Choreografie Sointu Pere/ Szenografie, Kostüm Sarah Ama Duah/ Performer*innen Naomi Boima, Sarah Ama Duah, Rositsa Mahdi/ Musik Anna Lucia Nissen / https://www.sarah-ama-duah.com/ / Instagram: @sarah_ama_duah
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