Von Tim Sandweg

Im April 2020, als der Lockdown wirklich noch ein Lockdown war, radelte ich einmal pro Woche aus meinem Home Office ins Theater. Mein Arbeitsweg führt einmal quer durch Berlin-Mitte und ist normalerweise von Berufsverkehr und Tourist*innen flankiert. Jetzt: Nichts. Und ich meine wirklich: Nichts. Morgens um halb Zehn: Kein Mensch auf dem Gendarmenmarkt. Am frühen Abend am Brandenburger Tor: Keine Fotogruppen, keine Souvenir-Verkäufer*innen, niemand. Dieses Bild hat mich noch, als wir aus diesem ersten Lockdown wieder aufwachten, schwer beschäftigt.

Das erste Festival, das ich nach dem Lockdown im Frühjahr wieder besuchen konnte, waren die Theaterformen in Braunschweig. Mit Theater hatte diese Ausgabe nicht viel zu tun, vielmehr waren vor allem installative Arbeiten und Online-Projekte zu sehen. Und so saß ich auf der großen Bühne des Staatstheaters und wurde überrollt von Wellen. Das war eine irre Erfahrung. Ich dachte viel nach über das Festivalmachen in unsicheren Zeiten, fragte mich, ob es sinnvoll ist, mit Vorstellungen zu planen oder ob wir einfach eine große Ausstellung machen sollten, fragte mich, wie man überhaupt kuratieren soll, wenn man nirgendwo hinfahren kann (und nur begrenzt Lust auf Video-Mitschnitte hat). Und schmiss dann die bisherigen Planungen für Theater der Dinge 2021 über den Haufen.
Das zweite Halbjahr überrollte mich auch. Es war aber nicht so schön wie die Meeresbrandung in Braunschweig. Vor allem ließ es keine Zeit, sich dem nächstjährigen Festival zu widmen, wo doch das diesjährige Festival (und der ganze Theaterbetrieb) auf der Kippe stand. Ich hörte in Vorfreude auf das neue Album (und um irgendwie die Laune zu behalten) im Oktober alle alten Die Ärzte-Platten durch. Und blieb wieder beim Thema Leere hängen, während ich mich von den explodierenden Feuerwerkskörpern in Dauerschleife hypnotisieren ließ. Ob sich das für ein Festival eignen würde?
Immer wenn ich Weihnachtskarten schreiben muss, schaue ich meine Postkartensammlung durch. Und dabei fiel mir eine Postkarte in die Hand, die ich um 2010 aus dem Schauspiel Hannover mitgenommen hatte. Sie warb für die mehrjährige Produktion »Die Welt ohne uns«. Ich stellte sie auf meinen Schreibtisch.

Es dauerte dann ein paar Tage, bis ich herausfand, dass die Inszenierung auf dem gleichnamigen Buch des US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Alan Weismann basierte, der sich Mitte der 00er Jahre Gedanken gemacht hatte, ob sich die Natur die Welt zurückholen kann, wenn der Mensch von heute auf morgen verschwunden wäre. Bei meiner Lektüre stellte ich fest: Die Chancen stehen gut. Es dauert halt. Und dann schrieb ich unterm Weihnachtsbaum, der bei uns eher ein Gebüsch mit Lichterkette ist, die Festivalkonzeption.
Tim Sandweg ist Künstlerischer Leiter der Schaubude Berlin sowie des Festivals Theater der Dinge.
Festival-Visual: Jaka Varmuz
Theater der Dinge 2021: »Die Welt ohne uns« 4.-13. November 2021
Internationales Festival für zeitgenössisches Figuren- und Objekttheater
Zum Programm
(vollständige Veröffentlichung am 18. Oktober 2021)