Eine Sprache für Moskitos, Füchse, Monsterae. Marc Bubeck über Anna Tsing

1.000 kleine Moskitos (der Gattung Aedes aegypti) schwirren in meinem Kopf.

Heute morgen, als ich das Haus für einen Morgenspaziergang verlassen hatte, blickte ich in zwei braunrote Augen. Sie schauten wachsam zu mir zurück. Der rot-weiße Körper hielt kurz inne, schien mir etwas sagen zu wollen, machte sich dann aber flugs auf den Weg in einen mit Efeu zugewucherten Vorgarten. Ich kann nicht sagen, ob es genau dieser Rotfuchs (Vulpes vulpes) war, aber ich begegne seinen Artgenoss*innen hier in Berlin tatsächlich häufiger als ich ihnen früher bei meinem Eltern begegnet bin, die inmitten eines Buchenmischwaldes in Süddeutschland wohnen.

Das könnte eine Anekdote sein, die auch von der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing am Abend vor ihrem Vortrag »The Feral world – with and without us« beim Festival »Theater der Dinge – Die Welt ohne uns« bildreicher, wissender und in größeren Zusammenhängen hätte erzählt werden können.

Sie stellte darin das Projekt »Feral Atlas. The More-Than-Human Anthropocene« vor: ein ungezähmter, wilder Atlas über eine Welt, die nicht ohne »uns« ist, der jedoch nicht nur »uns« thematisiert, sondern auch auf unsere vielfältigen Verstrickungen eingeht – und hier meine ich ein inkludierendes uns, dass alle critter (wie es Donna Haraway sagen würde, Kreaturen) einschließt.

In ihrem Vortrag haben wir gedanklich die Welt mehr als einmal umrundet, sind in der Zeit zurück und vorgereist, sind dabei Menschen, Pflanzen, Viren, Bakterien und anderen Tieren begegnet. Es handelt sich um Wissenschaft und Fiktion, um Dystopien und Utopien. 

Der Atlas ist ein multidisziplinäres Projekt, das die unterschiedlichen critter-Geschichten erzählt und dabei weder Anfang noch Ende kennt. All das vermittelt durch multimediale Kunstformen. Ein Besuch der »Feral Atlas«-Seite stellt eine Reise in eine kleine, vertrackte digitale Welt der Materialität(en) dar. Bei jedem Besuch können neue Geschichten aus diversen Perspektiven entdeckt werden.

»Radioaktive Insekten« – feralatlas.org dokumentiert multimedial und künstlerisch nicht beabsichtigte menschliche Effekte aud die Natur.

In der Diskussion wurde mir klar, dass es keine leichte Aufgabe ist, eine Sprache zu finden und zu verwenden, die das Mehr-als-(nur)-Menschliche (more-than-human) berücksichtigt. Anna Tsing weist darauf hin, dass die Worte, die wir verwenden, immer bereits eine Geschichte haben, die mehr ist, als wir individuell ausdrücken wollen. Es handelt sich also um ›kontaminierte‹ Wörter. Auch beim Begriff mehr-als-(nur)-menschlich wird dies deutlich, denn auch hier wird das, das de-zentriert werden soll (das Menschliche), sprachlich thematisiert.

Auch andere Begriffe, wie other-than-human oder sogar less-than-human (das als Konzept stark in der westlichen Geistesgeschichte verankert ist) haben das gleiche Problem. Zum Teil wird auch der Begriff multispecies verwendet, beispielsweise in Verbindung mit Ethnographie oder auch zur Bezeichnung von Haushalten, wenn eine Monstera als Mitbewohnerin betrachtet wird. Insgesamt meint der Begriff das Zwischen- und Zusammenspiel mehrerer Arten.

feralatlas.org

Anna Tsing ging hier auf die Kritik ein, dass »Spezies« als Begriff historisch und – seit Darwin – wissenschaftlich schwierig sei, da die Arten, einmal entstanden, als starr und fest verstanden werden und so die Kontingenz und Verknüpfungen nicht gesehen werden und die Perspektive auf das Nicht-Lebende, wie Sand oder Plastik, versperren. Es handelt sich also um eine nicht abzuschließende Suche nach Begrifflichkeiten, um über die Welt mit uns zu sprechen. Zugleich hat jeder Begriff aber eine Geschichte, die uns als Individuum nicht verfügbar ist, sondern in der wir uns durch die Verwendung von Sprache immer wieder unterordnen müssen (Lacan lässt grüßen). Auch ist mit Begriffen je eine bestimmte Perspektive auf die Welt verbunden, aus der Ein- und Ausschlüsse entstehen – quasi ihr je spezifischer blinder Fleck.

Aber – und das war das für mich motivierend an dem Vortrag von Anna Tsing – die Arbeit an den Begriffen ist immer auch ein kreatives Spielen. Ein Spiel, in dem Künstler*innen und ihre Objekte uns helfen, neue Begriffe und Perspektiven zu erlernen.


Marc Bubeck setzt sich für eine humanimalische Soziologie ein. Und fragt sich, welche Rolle Oktopoden in einer Welt ohne uns einnehmen werden.

Fuchsfoto: Joni-Pekka Luomala, flickr CC
Mückenschwarmfoto: Sgt. Pfeffer, flickr CC


The Feral world – with and without us
Anna Lowenhaupt Tsing
Online-Vortrag und Diskussion

5.11. via Zoom


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