Martina Couturier: MutMachMädchen

Ich liebe unsere Märchen und habe doch keines, das ich den heute zuschauenden Kindern anbieten möchte mit dem Versprechen, dass es eine Inspiration sein kann für die Mädchen und Jungen unserer Zeit, ihnen Mut macht und Selbstvertrauen gibt. Mir sind die Mädchenfiguren zu kraftlos: Meist warten sie passiv ab, bis sie von einem Prinzen erlöst und geheiratet werden. 

Während der Residenz begab ich mich deshalb auf die schwierige Suche nach starken Mädchengestalten.

Quellen

Ausgehend von der Recherche-Idee, in internationalen Märchen nach Mädchen- bzw. Frauenfiguren jenseits der üblichen Klischees von Anmut, Schönheit oder Sanftmut zu suchen, dazu eingesetzt, um eine gute Prinzessin/Königin zu sein, habe ich mich zunächst mit verschiedenen Märchen aus aller Welt beschäftigt. Ich habe Märchenbücher mit spanischen, italienischen, schwedischen, schottischen, norwegischen, arabischen, japanischen und indischen Märchen gelesen, dazu einzelne Märchen der Elfenbeinküste sowie aus Afghanistan, England und Ecuador. Zwischen den wenigen Märchen, die zu meinem Thema interessant erschienen, habe ich Parallelen gesucht und dabei besonderes Augenmerk auf das Ende der Erzählungen, auf die geschilderte Erlösung oder Belohnung, gerichtet. Von einigen unbekannteren Märchen habe ich im Austausch mit der Hamburger Figurenspielerin und Erzählkünstlerin Petra Albersmann erfahren.

Beobachtungen

Die Recherche machte deutlich, dass es in internationalen Märchen ebenfalls überwiegend die männlichen Protagonisten sind, die eine sogenannte Heldenreise unternehmen, um am Ende zumeist eine Prinzessin zu erlösen und zu heiraten oder um eine besondere Schönheit in den Stand einer Auserwählten, einer Königin zu erheben.

Und ganz gleich, welchen Weg eine Protagonistin einschlagen muss in ihrer Geschichte – auch ihr Glück ist am Ende erst perfekt durch eine wundersame Hochzeit. 

Außerdem zeigte sich, dass Heldinnen, wenn sie vorkommen, eher einfacher als adeliger Herkunft sind – siehe »Kathie knackt die Nuss« (England), »Hänsel und Gretel« (Deutschland), »Silbernase« (Italien), »Die braune Ziege« (Afghanistan) oder »Das kluge Mädchen« (Spanien). Aber es gibt auch einige wenige Beispiele, die im Setting internationaler Königshäuser spielen – wie »Goldbaum und Silberbaum« (England), »Prinzessin Unglück« (Spanien), »Caterina und ihr Schicksal« (Italien) oder »Lumpenhut« (Norwegen).

In den Geschichten geht es um die Klarheit junger Frauen, in stiller Kraft den richtigen Augenblick zu erkennen, um ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und so Heldinnen ihres eigenen Lebens zu werden. Ältere Frauenfiguren, die schon mitten im Leben stehen, nutzen in den Erzählungen Mut und Klugheit, um ihre Werte zu verteidigen oder um ihre Ziele, ihre Kinder, ihr Leben zu schützen.

Die Märchen anderer Länder weisen durchaus Parallelen zu unseren Märchen im deutschsprachigen Raum auf, was das Bild der erfinderischen, wehrhaften Mädchen angeht: Sie werden oft als hässliche Personen geschildert, die böse Ziele verfolgen. Da es sich in allen Fällen um alte, überlieferte Geschichten handelt, die in patriarchalen Strukturen entstanden sind, ist das durchaus verständlich.

Spannend sind Märchen, in denen Frauensolidarität zu einem guten Ende führt, wo etwa eine Frau einer anderen hilft, nicht weiter vor den Verletzungen der Vergangenheit davonzulaufen, sondern ihnen mutig ins Auge zu schauen (»Lumpenhut«).

Beispielhafte Märchenfunde

Die erwartete Vielfalt an Frauencharakteren habe ich nicht gefunden, aber es gibt wiederkehrende interessante Aspekte, die ich am Beispiel von drei ausgewählten Märchen vorstellen möchte:

1. Heldin aus dem Volk: »Das kluge Mädchen« (Spanien)

Der Prinz soll sich vermählen, möchte seine Braut aber nicht unter den vornehmen Damen wählen, sondern sucht ein witziges und kluges Mädchen aus dem Volk. Die findet er auch, stellt sie auf eine Probe (»Komme morgen in den Palast, gehe auf dem Weg und außerhalb des Weges, sei weder angekleidet noch ausgezogen!«) und heiratet sie, macht aber zur Bedingung, dass sie ihm weder Ratschläge noch Hilfestellungen geben dürfe, sonst müsse sie den Palast verlassen. Da sie aber klüger und schlagfertiger ist als er und sich nicht zurückhält, schickt er sie schließlich zu ihren Eltern zurück. Sie erbittet mitzunehmen, was ihr am Liebsten ist, und nimmt in der Nacht ihren schlafenden Ehemann mit aus dem Schloss. Das amüsiert diesen so sehr, dass er ihr fortan erlaubt, so viele Ratschläge zu geben, wie sie nur möchte.

2. Solidarität: »Lumpenhut« (Norwegen)

Die Königin wünscht sich so sehr ein Kind, dass sie sich die Hilfe einer Frau aus dem Volke holt, die ihr einen Zauberspruch sagt, den sie aber nicht genau befolgt: Sie soll eine schöne Blüte essen, die sie unter ihrem Bett findet, eine zweite, seltsame aber stehenlassen. Die Königin isst beide und es werden zwei Kinder geboren: Erst kommt ein Mädchen zur Welt mit einem hölzernen Löffel in der Hand, das auf einer Ziege reitet und gleich sprechen kann, dann kommt ein blondes, zartes und schönes Mädchen zur Welt. Die Mädchen sind unzertrennlich, auch wenn die eine zart und die andere stets wild, mutig, schmutzig und zerlumpt aussieht, was ihr den Namen Lumpenhut einbringt. Als die Trolle ihrer Schwester einen Kalbskopf aufsetzen, segelt Lumpenhut als Kapitän mit ihr ins Land der Trolle, bezwingt diese und macht den Zauber wieder rückgängig. Die beiden segeln weiter durch die Welt, bis sie in einem Königreich beide ihren Prinzen finden. Auch Lumpenhut kann unter der Wertschätzung des Prinzen, der sie so lassen kann, wie sie ist, nun auch ihr äußeres Bild verwandeln.

Abbildungen Lumpenhut und Die Riesenraupe / aus: Ethel Johnston (Hrsg.): Kati Knack-die-Nuss. Und andere Geschichten von schlauen Mädchen. Elephant Press 1987

3. Ältere Frauen verteidigen ihre Kinder: »Die Riesenraupe« (Elfenbeinküste)

Am Rand eines Dorfes lebt eine riesige, ekelhafte Raupe mit einem langen, spitzen Dorn auf dem Kopf. Als eines Tages drei Jungen zum Feld gehen, muss jeder die Raupe, die quer über dem Weg liegt, höflich begrüßen, um deren Erlaubnis zu bekommen, vorbeizulaufen. Zwei der Jungen machen dschas und begrüßen die Raupe als Papa und Großpapa. Die Raupe bedankt sich und lässt die beiden vorbeigehen. Der dritte Junge aber, Badjina, beleidigt und provoziert die Raupe so hartnäckig, dass diese ihn mit einem einzigen Bissen verschlingt. Die Männer des Dorfes, allen voran Badjinas Vater, wollen gemeinsam zur Raupe, um sie zu erschießen. Als sie aber vor der riesigen, ekelhaften Raupe stehen, nehmen sie Reissaus. Badjinas Mutter und die übrigen Frauen fürchten um das Leben des Jungen und schmieden einen Plan. Die Männer lachen über sie, als sie am Abend mit Hölzern, Löffeln und Messern zu der Raupe schleichen. Bijou, die mutigste Frau, erlegt die schlafende Raupe mit einem einzigen festen Schlag auf den Kopf, die anderen öffnen ihren Magen und finden den kleinen Badjina lebendig und unverletzt.

Ausblick: Was mache ich mit dem Material?

Ich möchte die Ergebnisse nutzen, um für die Bühne eine kraftvolle Mädchenfigur zu entwickeln, die mutig und klug Gefahren abwendet, soweit es in ihrer Macht steht, und sich nicht beirren lässt auf ihrem Weg. Ich möchte einer Mädchenfigur unserer bekannten Märchen damit mehr Handlungsspielraum und Selbstbewusstsein ermöglichen, damit sie eine Inspiration sein kann für die Kinder unserer Zeit, ihnen Mut macht und Selbstvertrauen gibt.  


Martina Couturier ist Schauspielerin, Puppenspielerin und Regisseurin. Nach einem Studium der Philosophie, Biologie und Theologie in Tübingen schloss sie in München eine Schauspielausbildung ab. Mit dem Freien Theater München und der Comedia Opera Instabile stand sie in überregionalen und internationalen Gastspielen auf der Bühne. Sie entdeckte das Figurentheater für sich und setzte erste Regiearbeiten im Kammertheater Neubrandenburg und im Fliegenden Theater um. 2008 gründete sie Theater Couturier als mobile Bühne. Ihre Produktion »Ente, Tod und Tulpe« gewann 2009 den IKARUS-Preis.