Leonie Euler: Theater und Ritual – Was ich will!

#TakeCareResidenzen, Projektzeitraum Februar bis März 2021

Beobachtungen und ein Manifest

Wie kann Theater wieder ein Raum sein, der Welten öffnet und uns für Momente von unseren beschränkten Egos befreit, ohne exklusiv oder dogmatisch zu sein?


Meine Theatererlebnisse aus der Zuschauerinnen-Perspektive sahen zu 80 % bisher so aus:

Ich bewege mich zum Ort der Veranstaltung, vielleicht habe ich im Vorfeld das Programmheft gelesen, vielleicht auch nicht. Während der Vorstellung sitze ich in sicherer, räumlicher und emotionaler Distanz im Zuschauerraum und gucke mir an, mit welchen Mitteln andere Kulturschaffende diese oder jene Geschichte erzählen. Es schmeckt ein bisschen wie etwas, das so oft in der Mikrowelle wieder aufgewärmt wurde, dass es Nährstoffe und Geschmack und damit den eigentlichen Zweck der Nahrung völlig verloren hat.

Das war schon lustig grade, denke ich, während jemand hinter mir viel zu laut lacht, um zu signalisieren, dass er die Anspielung auf die Ur-Inszenierung von Brecht verstanden hat: Haha! Ich denke drüber nach, was ich im Foyer gleich Schlaues sagen könnte, falls jemand fragt und verlasse zum Schluss leicht unterkühlt meinen Platz.

Mit einem Wein in der Hand befindet man/frau dann, mit anderen intellektuellen Menschen, das Gesehene für gut oder schlecht oder nichtssagend oder von allem ein bisschen – je nachdem, ob man von der Dramaturgie oder den Spieler*innen, dem Stoff oder der Ästhetik spricht. Und dann geht man nach Hause und ist froh sich mal wieder kulturell weitergebildet zu haben…?
Oder was?

Das klingt furchtbar und normal zugleich. Besonders wenn man bedenkt, dass ich vier Jahre zeitgenössische Puppenspielkunst studiert habe und nach wie vor in den Bereichen Theater und Film arbeite und sogar arbeiten will. Da könnte man sich doch fragen: »Warum?!«

Natürlich sind die oben beschriebenen, faden 80 % meiner Theaterbesuche nicht der Grund, warum ich Teil dieser Welt sein will, von den meisten Erfahrungen auf schaffender Seite ganz zu schweigen.

Ich mache das wegen der 20 %, die ich erleben durfte, die so kraftvoll, besonders, berührend und magisch waren, dass sie sich in mich eingebrannt und in der Asche einen Samen gepflanzt haben, der sagt, dass etwas anderes möglich ist, dass Theater mehr sein kann, als ein Ort, an dem man sich gegenseitig den marginal abweichenden akademischen Kunstbegriff streichelt und zeigt, wie viel man gelesen hat.

Aber wieso ist das so? Ich bin doch nicht die Einzige, der es so geht, oder? Warum kann ein David-Lynch-Film mich drei Stunden so tief in den Bann ziehen, dass ich nicht einmal merke, dass ich die ganze Zeit pinkeln muss, ohne dass ich im Nachhinein auch nur halbwegs die Geschichte wiedergeben kann? Wieso sitze ich danach, voll innerer Bewegung, rauchend am Fenster und versuche, wieder in derRealität‹ anzukommen? Dabei saß ich nur in meinem Bett vor einem Bildschirm. »Ja, Film! Film kann das, der kann sich ja auch ganz anderer Mittel bedienen.«

Und Theater soll das nicht können?! Theater ist doch live! (Zumindest war das bis vor einem Jahr noch so und ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben, dass es ganz bald wieder so sein wird.) Theater findet doch tatsächlich in diesem Moment, unmittelbar und mit mir statt und müsste doch somit ein mindestens genauso intensives Erlebnis hervorrufen können wie ein Film?

Es gibt sicher viele Gründe, warum das Theater oft weit hinter der Wirkung zurückbleibt, die es haben könnte. Wie denke ich, dass Theater das Potenzial entfalten kann, nach dem ich mich so sehne?

Meine Antwort liegt im Ritual.

Wenn ich von Ritual spreche, spreche ich nicht von Routine. Ich spreche von dynamischen, kulturellen Inszenierungen, die tatsächliche, instrumentelle Funktionen erfüllen, neue Ideen erzeugen und die soziale und/oder persönliche Ordnungen herausfordern. Rituale verweisen ebenso immer auf etwas Nicht-Alltägliches, Transzendentes, auf eine nichtrationale Ebene.  

Wenn zu Weihnachten Menschen in die Kirche gehen, die den Rest des Jahres mit Religion kaum in Berührung kommen, glaube ich nicht, dass es aus reiner, unreflektierter Traditionsbefolgung passiert. Ich glaube, sie gehen aus einer tiefen Sehnsucht nach gemeinschaftlichen Ritualen dorthin, unabhängig von der aufgeladenen religiösen Bedeutung. Es geht um den rituellen Prozess selbst. Das Problem ist nur, dass die wirkliche Teilhabe für viele Menschen wegen fehlender religiöser Zughörigkeit nur teilweise oder gar nicht möglich ist.

Aber Theater kann dieser Raum sein, der Welten öffnet und dich für Momente von deinem beschränkten Ego befreit, ohne exklusiv oder dogmatisch zu sein!

Mit der Trennung zwischen Kunst und Realität kam einerseits die künstlerische Freiheit, aber auch gleichzeitig »die Gefahr des Bedeutungsverlusts der Kunst, des Theaters« , mit der wir bis heute zu kämpfen scheinen. Gerade jetzt, wo die Welt sich fragt: »Theater, wozu war das nochmal gut? Geht das nicht auch ohne Publikum?«

Die Chance des Theaters liegt in seiner Unmittelbarkeit in Raum und Zeit, in der Kommunikation der Teilnehmenden und dem Erleben von anderen Realitäten – erleben und nicht nur beobachten. Es geht nicht darum, zum religiösen Ursprung des Theaters zurückzukehren, von dem es sich mühsam emanzipiert hat, aber es stecken elementare Antworten für das zeitgenössische Theater in ebendiesen Anfängen.

Also back to the roots und weg vom Altbwährten, würde ich sagen!

Wenn das Theater seine Notwendigkeit wiederfinden will, muss es uns all das zurückgeben, was in der Liebe, im Verbrechen, im Krieg, oder in der Ausgelassenheit zu finden ist.

Antonin Artaud

Was ich von Theater will

FÜR MEHR 20 %!

MANIFEST AN MICH UND ALLE THEATERSCHAFFENDEN GERICHTET, DIE SICH AUCH NACH MEHR SEHNEN

I.

 MEHR MUT ZUR GRENZERFAHRUNG!

Ich will, dass wir aufhören uns unter einem intellektuellen Kunstbegriff zu verstecken und dahin gehen, wo es riskant wird. In die fragile Balance zwischen Realität und Fiktion, in das ›Dazwischen‹. Risiko: Damit meine ich, das wirkliche, nicht-ironische Zulassen von Emotionalität und das Risiko, nicht zu wissen, wo der Abend endet und sich gerade deshalb mit voller Wucht reinzuwerfen, egal ob Publikum oder Spieler*in.

Ich will keine unterspannte Dienstleistung, weder leisten noch empfangen. Ich will, dass wir uns trauen, wirklich etwas zu verhandeln, uns verletzlich zu machen und Theater als undogmatische Möglichkeit begreifen, sich sozusagen mit dem Göttlichen zu verbinden. Die Bedeutung von Spiritualität ist nichts was wir wegreden oder wofür wir uns schämen sollten. Es gehört zum Menschsein wie der Körper. Außerdem schließen sich spirituelle Erfahrung und physische Erfahrung in keiner Weise aus. Im Gegenteil, sie gehören zusammen. Der Körper macht die transzendentale Erfahrung überhaupt erst möglich.

Ich will Theater als Brücke zwischen Gedanken und Gefühlen, zwischen Ratio und Intuition, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Abstraktem und Konkretem!

II.

MEHR PHYSISCHES ERLEBEN! MEHR KATHARSIS!

Ich will, dass meine üblichen Denkmuster, die Tag für Tag durch meinen Kopf kreisen, plötzlich durch etwas anderes abgelöst werden, dass ich nicht mehr nur mit dem Intellekt verstehe und analysiere, sondern dass mir durch meinen Körper, mein Unterbewusstsein, meine Emotionen ein anderes Erleben zuteil wird. Das muss nicht heißen, dass ich wirklich körperlich aktiv am Geschehen beteiligt bin, sondern dass das Geschehen meine sinnlich-physische Existenz im Raum anspricht.

Ich will, dass es in mir vibriert, rumort, springt, wummert. Ich will Impulse spüren, aufzustehen, wegzurennen, zu lachen, zu schreien, zu weinen. Ich will, dass das Abgründige, Emotionale, Dramatische, Urige in mir, das in meinem Alltag  – mal aus besseren, mal aus schlechteren Gründen – wenig Platz findet, uns für Momente aus der Trennung in die Ganzheit führt.

III.

MEHR GEMEINSCHAFT!

Ich will Vergemeinschaftung, die über Neben-fremden-Leuten-im-Saal-Sitzen hinausgeht. Es geht doch vor allem um die Begegnung zwischen Menschen und nicht um rationales Verstehen dramatischer, politischer oder philosophischer Bezüge.

Ich will mich, über das gemeinsame Erleben, mit anderen verbinden und eine Gemeinschaft sein, die sich live in diesem kollektiv erlebten Moment formt und danach wieder in sich zerfällt.

Ich will für einen Moment das Gefühl haben, Teil von etwas Größerem als nur dem eigenen Ego zu sein –  und das, ohne konvertieren zu müssen, ohne Angst, gleich für irgendwas instrumentalisiert zu werden. Eine Moment-Gemeinschaft, die mich kurz die Kraft des Kollektivs spüren lässt. Eine gemeinschaftliche Erfahrung, die dem Individuum dient, das will ich.

III.

TRANSFORMATION!

Ich will Transformation. Ich will zwischendurch vergessen, wer und wo ich bin – als Zuschauende und als Spielerin. Ich will aus meiner Welt des alltäglichen Denkens, Fühlens und Handelns herausgeschleudert werden. Ich will als jemand anderes aus dem Saal gehen, als der oder die ich reingegangen bin. Und ich will, dass ich dir das nicht in drei Sätzen bei einem Glas Wein im Foyer zusammenfassen kann.

UND WIE? IDEEN.

MEHR KLANG! MEHR RHYTHMUS! MEHR WUMMS!

Kein anderes Medium kann so direkt im Körper andocken und uns daher das näherbringen, was nicht in Worte zu fassen ist als Klang. Damit ist es das wahrscheinlich transzendenteste Mittel der Kunst überhaupt. Aber die Angst, jemand würde einem am Ende Effekthascherei unterstellen, ist gar nicht so unverbreitet unter Theaterschaffenden. Welcher emotional beschränkte Theatertheoretiker hat sich das eigentlich mal ausgedacht?

Natürlich sollte es nicht darum gehen, dem Publikum von vorne bis hinten seine Emotionen vorzukauen. Aber ich will doch, dass es mich immer wieder an den Stellen packt, wo mein Kopf eben nicht schnell genug Einspruch erheben kann. Und Klang ist nun mal eines der besten Mittel, um in den Körper zu kommen.

Live-Musik hat den zusätzlichen Effekt des stärkeren physischen Erlebens für die Beteiligten, da der Klang nicht nur hörbar, sondern auch physisch, energetisch anwesend und sichtbar ist. Es verbinden sich also mehrere Sinnesebenen auf einmal, was dazu führt, dass man noch stärker in den Moment gesogen wird. Aber manchmal tut es eben die Anlage genauso gut.

Klang muss ja auch nicht immer Musik bedeuten. Es kann auch Rhythmus sein und auch der kann nicht nur von Instrumenten oder durch Klatschen erzeugt werden. Auch Sprache kann durch Rhythmus und Betonung auf physischer Ebene fast trance-artig wirken. Und plötzlich nehme ich die gesellschaftskritische, politische Abhandlung vorne noch über ganz andere Kanäle wahr.

WENIGER TRENNUNG ZWISCHEN ZUSCHAUENDEN UND SPIELENDEN!

Die Trennung zwischen Spielenden und Publikum räumlich aufzulösen, muss nicht zwingend bedeuten, dass die Zuschauenden sich nur noch frei durch den Raum bewegen. Es hat schon einen großen Effekt, wenn das Publikum immer wieder zur potenziellen Mitspieler*in wird und damit seine passive Distanz zumindest zeitweise aufgibt. Aber auch die Spielenden können weniger einfach nur abliefern, sondern  müssen mit dem umgehen, was das Publikum mitbringt, einwirft, zu geben und zu tragen bereit ist.

Vielleicht laufen die Spielenden manchmal durch den Publikumsraum. Vielleicht öffnet sich zeitweise die Bühne für die Zuschauenden. Vielleicht seilt sich über dem ersten Rang jemand ab, der mir auf den Kopf spucken könnte, oder die Spieler*innen betreten und verlassen den Raum durch dieselben Türen wie die Gäste. Vielleicht ist es auch gar kein Saal, sondern ein Gelände mit Wohnwagen, eine komplette Welt, durch die ich mich frei bewegen kann.

Diese zeitweilige dynamische Aufhebung der Trennung zwischen Publikum und Spielenden gibt allen die Möglichkeit, ein Erlebnis zu kreieren, das wirklich gemeinsam erfahren wird und niemals wieder so wiederholt werden kann. Es wird weniger kulturelle Konsumveranstaltung als ein tatsächliche Co-Kreation, ein Ritual, immer wieder anders und neu geboren aus der einzigartigen Zusammensetzung von Spielenden und Publikum an eben diesem Abend.

MEHR REALE MOMENTE!

Wenn bei einem Opferritual ein Huhn für die Götter geschlachtet wird, dann ist die Geste zwar symbolisch, da der Gott das Huhn ja nicht wirklich verspeisen kann, aber das Huhn wird trotzdem real geschlachtet. Das Ritual ist eben nur dann wirksam, wenn sich Symbol und tatsächliche Handlung verbinden bzw. beides vorhanden ist.

Ich will um Gotteswillen auf der Bühne keine Hühner schlachten. Ich will sagen: Theater kann auch nur dann seine volle Wirkung für alle Beteiligten entfalten, wenn es sich nicht ausschließlich auf das »Als-ob-Prinzip« verlässt nach dem Motto »Ich hab da mal was vorbereitet«.

Ich will sehen, wie sich Fiktion plötzlich in Realität verwandelt, wie plötzlich jemand tatsächlich an einem Vorgang scheitert, sich abarbeitet, alleine nicht mehr aus dem Kraken-Kostüm kommt. Ich will, dass die Spielenden tatsächlich etwas erleben und so auch den Zuschauenden den Raum eröffnen, tatsächlich an etwas teilzuhaben, das gerade in diesem Moment gemeinsam erschaffen und erfahren wird. Und wenn es heute Abend eine halbe Stunde länger braucht, um das zu verhandeln, was man verhandeln will, dann ist das eben so.

Amen.

Kommentare, Gefühle, Anmerkungen, Fragen zum Thema gerne an: leonie-euler@outlook.de


Leonie Euler lebt als freischaffende Schauspielerin und Puppenspielerin in Berlin. Seit ihrem mit Auszeichnung abgeschlossenen Studium für Zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS »Ernst Busch« war sie in Gastspielen u. a. am Puppentheater Magdeburg, Schauspielhaus Magdeburg, Pierre-Boulez-Saal sowie an der Berliner Staatsoper tätig. Seit Ende 2018 ist sie zusammen mit Pierre Schäfer regelmäßig mit der Eigenproduktion »Irgendwo ein Licht« unterwegs. Außerdem ist sie Teil des experimentellen Abendformats »Der dystopische Salon« in der Schaubude Berlin. 2020 übernahm sie die Spielleitung und Dramaturgie in der Diplominszenierung »Memento Mutti« von Matthias Redekop. Derzeit bereitet sie den mittellangen Spielfilm (Kollektivarbeit) »Dämonen« vor (Konzept und Spiel) und beginnt im Mai die Probenarbeit für die freie Stückentwicklung »Creatures Hill«.

Fotos: Henning Mühlinghaus, 2008 (1), Centophobia, 2009 (2)