Fiona Kelly: Kollektivismus als Antwort

Im Mai und Juni 2022 habe ich mich ihm Rahmen der TakeHeart-Residenz mit der Wirkung des kollektiven Handelns in Kunst, künstlerischen Prozessen und Kunstvermittlung auseinandergesetzt. Hierzu lud ich 150 Schüler*innen aus drei Neuköllner Schulen dazu ein, gemeinsam mit Sprache, Sprachzeichen, Textformen, Bildsprache und audio-visueller Kunst zu experimentieren, indem sie ein von mir geschaffenes »Wasser-Netz-Geschichten-Kleid« zu Wasser lassen, die Sprachzeichen des Wassers interpretieren und künstlerisch »übersetzen«.

Ausgangsfragen

Kunst wird immer mithilfe von Materialien und für andere gemacht. Die Ausgangsfrage meiner Recherche war: Wie lässt sich diese Verbindung von Anfang an aktiver gestalten, damit es mehr Platz für die Eigenheiten aller Beteiligten gibt und so eine gemeinsame, kollektive – und nicht rein individuelle – Botschaft in die Welt gesandt werden kann?

Wo fängt ein Kollektiv an? Wie können auch »mehr-als-menschliche Elemente« Teil davon sein? Was sagt das Wasser den Jugendlichen und was sagen sie einander? Wie öffnen sich Jugendliche stimmlosen Subjekten wie dem Wasser oder der Natur? Wie verändert das kollektive Handeln die  Wahrnehmung innerhalb, aber auch außerhalb des Kollektivs? Welche Rolle spielt Kommunikation dabei und inwiefern ist das bewusste Umgehen mit unterschiedlichen Formen von Kommunikation eine Grundlage dafür, um die Verbindung, das Zusammengehörigkeitsgefühl des Kollektivs zu gestalten und zu pflegen?

Und: Sind Jugendliche überhaupt an derartigen Aktionen interessiert? Welche Rolle wollen sie übernehmen? Wo steigen sie ein, wo klinken sie sich aus? Wie interpretieren sie die unbekannteren Geschichten der Mythen, die im »Wasser-Netz« symbolisiert sind – und wie bringen sie diese mit sich selbst in Verbindung?

Phasen

Die Residenz ermöglichte es mir, viele dieser Fragen offen anzugehen – und zwar in vier Phasen:

Finden und Formen des Kollektivs

Um ein aus nichtsahnenden Jugendlichen sowie aus »mehr-als-menschlichen Beteiligten« bestehendes Kollektiv zu formen, lud ich – als mythologischer Charakter, nicht als Person – die Schüler*innen ein, mir bei den nächsten Schritten meiner künstlerischen Forschung zu helfen: Sie sollten das »Wasser-Geschichten-Netz« buchstäblich zu Wasser lassen, die Reaktionen des Wassers genau aufzeichnen und diese abstrakten Wasserszeichen dann für andere Menschen in weitere (künstlerische) Sprachen übersetzen.

Das Netz ist als »S.O.S.-Rettungsnetz« gedacht, um ungesehene und ungehörte Geschichten einzufangen und ihnen einen Platz im Alltag zu geben. Das stimmlose Wasser oder die kaum wahrgenommene Natur symbolisieren dabei auch die ungehörten Stimmen der Jugendlichen. In den meisten Fällen konnten diese das Gefühl nachvollziehen, nicht gehört oder wahrgenommen zu werden. Das verbindet sie mit der Natur.

Dass sich das Projekt über mehrere Wochen kontinuierlich fortsetzte, und zwar mit vielen Schüler*innen aus drei verschiedenen Schulen, brachte einen besonderen Drive in die Arbeitsatmosphäre. In ein großes Buch (A2), das als reisendes Kommunikationsmittel hin- und hergereicht wurde, durften alle Gruppen schreiben, malen, kleben… Für Experimente mit dem Wasser und den Naturfasern stellte ich darin Seiten für eigene Spuren zur Verfügung. So bekamen die Schüler*innen haptisch mit, wie unterschiedlich die verschiedenen Gruppen arbeiteten und wie alle zum Gesamtwerk beitrugen. Bestimmte Aktionen, die mehr Zeit verlangten, wurden durch mehrere Gruppen nacheinander ausgearbeitet, andere Aufgaben wurden parallel umgesetzt. Dadurch wurde die Diversität und Einzigartigkeit der Ergebnisse sichtbar.

Der Umstand, dass mein Projekt durch die Schaubude, die lokale Kunstschule Young Arts Neukölln und die Residenz-Förderung unterstützt wurde, stärkte die Motivation der Jugendlichen, sich darauf einzulassen. Die eigenen Stimmen bekamen dadurch auf jeden Fall Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, denn die Ergebnisse würden kurzfristig in einer Ausstellung sowie auf meiner Website und denen des Theaters und der Schulen veröffentlicht; langfristig fließen sie auch in meine künftige Performance ein.

Vom Web-Design und Animationsfilm bis zur raumfüllenden Installation der Klasse 7B: Der Krieg erschaffende Knoten. Krieg erscheint hier als Resultat eines Netzwerks von Eigeninteressen und Ignoranz.

Im Laufe des Projektes vergrößerte sich das Kollektiv sogar: Neugieriges Schulpersonal, Lehrer*innen oder Mitglieder von Partnervereinen bewunderten die Arbeit und unterstützten das Projekt mit Ideen, Organisation, zusätzlicher Begleitung, Material, Technik… Die positive Kraft dieser Verbindungen war ansteckend – über die Gruppen hinaus.

Finden der eigenen Stimme

Alle Gruppen konnten entscheiden, welche Materialien sie erforschen und mit welchem Medium sie davon berichten wollten. Das führte zu einer Vielfalt an expressiven Kunstformen, die mit menschlicher Sprache erläutert wurden oder einfach ohne weitere Erklärungen für sich sprachen.

Es gab folgende Einstiegsmöglichkeiten:

  • Das Netz (samt den einzelnen Naturseilen): Was ist das Netz eigentlich? Wie wurde es hergestellt und warum?  Wie kann das Netz ins Wasser gebracht werden?
  • Das Wasser (auch Kaffee oder Eis): Welche Wasserzeichen kann man entdecken? Wie kann man das Wasser »zum Sprechen bringen«?
  • Die acht Geschichten, die im Netz verknotet wurden: Welche Geschichten werden nicht gehört, müssen aber erzählt werden?
  • Sprache an sich: Was sind »Sprachzeichen«? Wie wird in der Welt kommuniziert, auch mit mehr-als-menschlicher Grammatik…

Die Schüler*innen durften diese Themen entweder künstlerisch-kreativ oder empirisch-objektiv erforschen. Die angebotenen Aktionen waren generell sehr empirisch geprägt. Ziel war es, die Jugendlichen jenseits vom rationalen und konzeptionellen Handeln mit natürlichen Elementen in direkten Kontakt zu bringen (wie den unterschiedlichen Naturfasern und dem Wasser im Kanal, in Aquarien oder in Form von Eis). Grundprinzip dabei war: Nichts muss – einfach erleben und dann versuchen, die Wahrnehmungen in einer eigenen Form widerzugeben.

Die Jugendlichen wurden so zu Forschenden und/oder Übersetzer*innen. Manche Gruppen gingen noch weiter und nutzten die abstrakte Sprache des Wassers, um mit dem Element in Dialog zu treten: »Was sagt das Wasser DIR?« Oder um sich zu fragen »WARUM zeigt mir das Wasser genau dieses abstrakte Zeichen?« So tauchten tieferliegende Themen auf, die in der Gruppe besprochen wurden.

Begegnungen in der Gruppe

Was ist der Sinn? Während des Experimentierens kommt immer diese Frage auf. Eine Reflexion der etymologischen Bedeutung des Wortes (von Indogermanisch *sent- / »gehen, reisen, fahren« über Althochdeutsch sinnan / »reisen, streben, trachten« bis hin zu Latein sentire / »empfinden, wahrnehmen«) brachte uns zu dem Schluss, dass der »Sinn« einerseits ein Sich-der-Welt-Öffnen ist (mit den eigenen »Sinnen«) und andererseits ein rationales Deuten, ein Richtung- und Bedeutunggeben des Wahrgenommenen.

»Was ist der Sinn?« wurde daher doppelt beantwortet: Wie öffne ich mich der gegenwärtigen Situation? Was nehme ich wahr? Und danach: Was bedeutet das für mich? Was kann ich damit anfangen; in welche Richtung möchte ich jetzt weitergehen? Die totale Eigensinnigkeit der Arbeiten war so grundlegend legitimiert; es entwickelten sich Solo-Künstler*innen mit einer Haltung, die das Selbst reflektiert und respektiert.

Nach jeder Einheit präsentierten alle die eigenen Prozessergebnisse und konnten einander Fragen stellen oder Kommentare abgeben. So entdeckten die jungen Forscher*innen nicht nur Eigenschaften der Materien bzw. Materialien neu, sondern auch neue Facetten über sich selbst und die anderen Forscher*innen. Die Aufmerksamkeit, die dem Forschungsobjekt dabei geschenkt wurde, spiegelte sich in den Gruppen wider und das allgemeine Staunen wuchs – über die Materien ebenso wie über die vielen kreativen Ideen.

Begegnungen mit sich und der Welt

Als abschließende Aktion wurde in den drei Schulen und der Kunstschule Young Arts Neukölln eine dezentrale Ausstellung organisiert. Da es in den Wochen davor kaum regelmäßige Begegnungen gab, wurden einige künstlerische Entscheidungen dafür von mir getroffen und dann an die Schüler*innen zurückgespielt, um den Prozess auf tieferer Ebene gemeinsam fortzusetzen.

So erklärte ich, warum ich gewisse Ideen mit bestimmten Materialien verknüpft hatte und fragte nach inhaltlichen und ästhetischen Reaktionen. Bei der Einrichtung der Ausstellung bekamen die Schüler*innen wieder neue Einsichten, denn jetzt wurde auf einmal der ganze Prozess sichtbar und sie konnten die Einzelteile zu einem Gesamtwerk verknüpfen. Es entwickelte sich Stolz darauf, was sie geschaffen hatten und Freude darüber, dass andere es sehen würden.

Bei der »Tour de Neukölln – das Netz von Neukölln« besuchten sich ca. 50 Schüler*innen freiwillig (!) gegenseitig in den jeweiligen Schulen und schauten sich vor Ort die Werke, die fremden Schulen und Lehrer*innen an. Das ganze Kollektiv war nun als ein Poly-Körper in Bewegung. Die buchstäblich unfassbare Verbundenheit von allem wurde deutlich – vom Wasser bis zu den Hausmeistern der Schulen, vom bereitgestellten Stift bis zum Wassermelonen-Snack: Alles waren Zeichen, dass noch ein Subjekt mehr mit im Boot war und seinen oder ihren Stein bzw. Faden zum Projekt beigetrug. Genau deswegen war das »Netz« ein sicherer Ort, um sich den anderen zu öffnen und in Interaktion zu treten.

Einsichten

Ich habe mein Vorhaben in sehr unterschiedlichen Gruppen und Gegebenheiten umgesetzt. Diese Vielfalt stellte sich als nützlich heraus, um unterschiedliche Herangehensweisen auszuprobieren und Reaktionen zu testen.

Durch die Zielsetzung, alles vom Kollektiv aus betrachten zu wollen, entsteht automatisch mehr Respekt für die Diversität der Teilnehmenden und deren Ergebnisse. Die Idee, Mensch und Natur auf gleicher Augenhöhe zu beteiligen, stellte sich im Hinblick auf die menschlich geprägte Form der Kommunikation jedoch als unmögliche Herausforderung heraus. Sie half allerdings, in einer konkreten Situation immer wieder den Sinn bzw. die eingeschlagene Richtung zu beleuchten. 

Alle Reaktionen sind Zeichen und alle Zeichen werden von Individuen stets neu interpretiert. Es geht darum, wach, offen und weich zu bleiben. Nur so können vertrauensvolle Verbindungspunkte gefunden und Netzwerke ausgebaut werden. Es braucht Sorgfalt und Zeit, um die fragilen Zeichen des Wassers sowie der Schüler*innen wahrzunehmen und zu interpretieren.

Medusa: In einem Workshop analysierten sieben Schüler*innen den Fall Medusa. Was könnten die Schlangen heute symbolisieren?

Der Prozess hat mich hoffnungsvoll gestimmt: Das gemeinsame Forschen nach den kommunikativen Eigenheiten des Wassers und des Netzes sowie nach der Wirkungen eigener künstlerischer Darstellungen verstärkte die Beziehungen zwischen Individuum, Objekt und Gruppe. Diese Neuköllner Jugendlichen haben ein kollektives Empfinden und sprechende Kunstwerke entwickelt. Sie zeigten mir unbekannte Perspektiven, die (auch für mich) Anlass waren, sich neu mit dem Wasser, der Gesellschaft und dem Selbst zu befassen. Viele Eindrücke und neue Fragen werde ich für weitere Projekte (Performances) ausarbeiten, sowohl inhaltlich als auch in der Art der Darstellung.

Mein Konzept des Kollektivs hat sich im Laufe des Projekts verändert: Ich begreife es jetzt als eine Art, miteinander umzugehen, die gegenseitigen Respekt und den Willen einschließt, einander bewusst Raum zu geben – als Voraussetzung, um man selbst zu sein und sich so ausdrücken zu dürfen, wie man es eben gerade macht. Diese Auffassung lässt das Kollektiv leicht anwachsen: Alles und jede*r kann so Teil davon sein, man muss es sich nur bewusst machen.

Die Freiheit, die Kunst als universelle Sprache anbietet, hat sich im Projekt gut untersuchen lassen. Kunst wurde zur Mediatorin, zum »alles verbindenden Kommunikationsmittel«.

Ausblick

Gern möchte ich ein Folge-Projekt umsetzen. Es könnte aber auch sein, dass es zusammen mit anderen Aktionen in mein übergreifenden Projekt des »Stimmenmeers« mündet.


Fiona Kelly (BE/IR) lebt in Berlin und hat Theater, Anglistik, Germanistik und Pädagogik studiert; ihre Masterarbeit schrieb sie über Rhythmus in Literatur, Sprache und Theater. Seit 2008 kreiert sie Performances auf und jenseits von Bühnen und leitet performative Kinder- und Jugendprojekte in Berlin, Brasilien und Belgien – u. a. mit Amaro Foro, Ada/Uferstudios, Artistania, Brand, ILB, itz-Berlin, Young Arts NK, Schaubude Berlin, Teatro Paidéia (E, BR), Stadtteilmütter, Helene-Nathan-Bibliothek.

Die De- und Rekonstruktion von »Kommunikationskonstrukten« ist für sie zentral; dafür experimentiert sie mit unkonventionellen Formen des »Storytelling«, in denen Musikalität und Rhythmik zu »Kunstsprachen« führen. Seit 2017 entwickelt sie Performance-Reihen an der Schnittestelle von Gesang, Theater, Animation, Tanz und Bild, die sich mit Wasser, Frauen und Geschichtsgestaltung befassen. Je nach Kunstform kooperiert sie mit wechselnden Künstler*innen.

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