Antonio Cerezo: HUMBOLDTGIPS

Humboldt, Gips und ich – das ist ein Liebesdreieck dreier Elemente, mit denen ich während der Residenz die politische Institution des Museums und seine kolonialen Mechanismen szenisch und kritisch analysieren wollte.

Ausgangsmaterialien

Humboldt, Alexander von: historische Figur. Der Forscher, Wissenschaftler, Reisende, Kenner, Sammler, Kritiker der kolonialen Mechanismen, gutaussehend, charismatisch und – so wurde ihm nachgesagt – eine fließende Sexualität besitzend, ist ein komplexer Charakter und den zeitgenössischen Idealen nach ein perfekter Mann: eine Figur, auf die die Nation stolz sein kann.

Gips, der: ein gebräuchlicher Werkstoff ohne exotische Eigenheiten, billig und leicht zu verarbeiten, der zur Behandlung von Knochenbrüchen dient, aber auch verwendet wird, um Artefakte zu replizieren, zu imitieren oder dasselbe Design massenhaft zu reproduzieren.

Ich: ein Mann, der seit 15 Jahren in Europa lebt und aus einem der kolonialisierten Länder stammt, die Humboldt bereiste und in denen er sowohl Wissen als auch Gegenstände sammelte. Als Teil dieser rassifizierten und unterworfenen Welt untersuche und hinterfrage ich die historische Verfasstheit der europäischen Welt und ihre aktuellen Folgen.

Museen und Gips

Das Museum ist ein Gebäude, in dem Ausstellungsstücke untergebracht sind und das aus Geschichten, aus Narrativen besteht – insbesondere aus einem, das den Besitz von Gegenständen rechtfertigt, die ihrem natürlichen Habitat entrissen wurden und zum kulturellen Sterben verurteilt sind. Es handelt sich um eine kulturpolitische Institution, die mit kolonialen Strukturen gegründet, regiert und verwaltet wird.

Gips war und ist ein wichtiges Material für Museen. Viele Repliken, sowohl von Gegenständen als auch von menschlichen Körpern, werden aus Gips hergestellt. Menschliche Körper – Gesichtsmasken und Gipsabdrücke anderer Körperteile, die von lebenden Individuen verschiedener menschlicher Gruppen stammen – gelten seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert als grundlegende Elemente und wertvolle Stücke für die Schaffung anthropologischer Museumssammlungen.

Ethische Kontroversen um die Legitimität der Ausstellung von Körpern in Museen, insbesondere von Körpern bzw. Gebeinen, die durch Gewalt oder Plünderung in kolonialen Kontexten erlangt wurden, haben bereits viele Institutionen dazu veranlasst, Rückgaben an die Herkunftskulturen zu veranlassen oder die Körper zumindest aus den öffentlichen Ausstellungen zu entfernen.

Die in den Sammlungen befindlichen Masken und Abgüsse wurden als Instrumente wissenschaftlicher Analyse für die rassistische Anthropologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts verwendet. Ausgearbeitet, um die Andersartigkeit oder Unterschiedlichkeit von Europäern/Weißen im Vergleich zu anderen Menschen darzustellen, waren sie ein wichtiges Werkzeug zur Verbreitung rassistischer Vorstellungen.

Die Körper der »anderen« als monströse Wesen darzustellen, die als außerhalb der europäischen Sozialnorm stehend betrachtet wurden, oder auch als Bewohner*innen unbekannter oder abgelegener Regionen der Welt, die erhebliche rassische oder ethnische Unterschiede aufwiesen, diente dazu, das kapitalistische, koloniale Produktionssystem wissenschaftlich-kulturell zu begründen.

Residenz

Zu Beginn der Recherche setzte ich mich theoretisch mit dem Thema auseinander und machte die politische Figur des »Museums« als wichtigen Anhaltspunkt für Eurozentrismus und Kolonialismus aus. Dabei fragte ich mich, welche Rolle das traditionelle Museum bei der Konsolidierung und Verbreitung des eurozentrischen Systems und seiner vermeintlich »universellen« Bedeutung spielte. Auch fragte ich mich, ob das Museum von heute andere Perspektiven einnehmen und zu neuen Formen des Zusammenlebens beitragen kann.

Inspiriert vom Dokumentarfilm »Pergamon in Gips«, der die Beziehung zwischen Museum und Gips thematisiert, wollte ich den Spielraum erforschen, den das Material eröffnen kann. Mit 25 Kilogramm Gips, fünf Päckchen Gipsbändern, einer Gipsbüste von Humboldt, zwei Eimern und meinem Körper begann ich im zweiten Teil meiner Recherche den szenischen Prozess.

Gips ist ein erhabenes Material, das in Verbindung mit Wasser jedoch ein rigoroses Tempo aufweist. Der pulverisierte und trockene Gips fliegt, entwässert, bedeckt und schafft ohne große Anstrengung Atmosphäre, aber es ist schwierig, ihn über längere Zeit einzuatmen, besonders wenn man körperlich aktiv ist.

Der Forscher und Entdecker Alexander von Humboldt war in diesem Prozess thematischer Anknüpfungspunkt, um ästhetisch zu »kolonialen Kontinuitäten« zu forschen. Texte, Biografien, Empfindungen und Entdeckungen reicherten das Material an, wurden erforscht und miteinander kombiniert.

Meine #TakeHeartResidenzforschung stand in einem inhaltlichen Zusammenhang mit einer Forschungsarbeit meiner Kollegin Laia RiCa, die parallel zu mir mit dem Material Kartoffeln forschte. Wir tauschten uns regelmäßig zu unseren Erfahrungen aus: Zum Umgang mit unserem Spielmaterial, seiner Biografie und seiner Performativität. Außerdem wurde ich unterstützt durch die Videokünstlerin Daniela del Pomar und die Dramaturgin Ruschka Steininger. Sie brachten weitere Spielelemente in die Untersuchung ein: ein Mikroskop, Mini-Videokameras und verschiedene Materialien, die als Projektionsfläche dienten.

Gips und Kartoffeln – Antonio Cerezos Residenz im engen Zusammenspiel mit Laia RiCas Recherche diente als Vorarbeit für eine gemeinsame Material-Performance, die eine Gegengeschichte zu Humboldt als humanistischem »Entdecker« entwirft: TALKING BACK (Premiere November 2022 in der Schaubude).

Fazit und Ausblick

Diese Residenz ermöglichte mir den Beginn einer Beziehung zum Material und zu ersten Verknüpfungen von Material, Theorie und Biografie. Der Forschungsprozess wirft weitere Fragen auf und gibt mir Anregungen, meine Beziehung und meine Auseinandersetzung zum Material Gips fortzusetzen. In Bezug auf Museen ist die Frage entstanden, inwiefern sie lernen können, der Realität, in der sie existieren, zuzuhören und die Gesellschaft zu verändern. Zweifelsohne brauchen wir mehr ungehorsame, disruptive und zutiefst menschliche Museen!

In den nächsten Monaten wird die Arbeit mit einer weiteren inhaltlichen Forschung weitergeführt, die ich gemeinsam mit Laia RiCa und Ruschka Steininger in diesem Jahr umsetze. Hiervon ausgehend planen wir eine Produktion, die zum internationalen Festival Theater der Dinge im Herbst 2022 in der Schaubude Berlin zur Premiere kommen soll.


Antonio Cerezo studierte Theaterwissenschaft und Schauspiel an der Nationalen Universität von Mexiko, sowie Schauspiel und Regie am HB Studio New York. Seit 1992 in Theatern in Mexiko, den USA und Europa tätig, lebt und arbeitet er seit 2007 in Deutschland als Schauspieler, Regisseur, Puppenspieler, Choreograph und Dozent. Er hat u. a. an diesen Theatern gewirkt: Berliner Festspiele, Volksbühne Berlin, Thalia Theater Hamburg, Theaterhaus Jena, Sophiensaele, Chamäleon Theater, Ballhaus Ost Berlin, Kampnagel Hamburg, Schaubude Berlin und Hebbel Theater Berlin.