„Art should comfort the disturbed and disturb the comfortable“

Ein Gespräch zwischen dem Kurationsteam von »Theater der Dinge« 2022.

Das Internationale Figurentheaterfestival »Theater der Dinge« der Schaubude Berlin findet vom 01.-07.11.2022 unter dem Titel »Spuren der Verunsicherung« statt. Das Kurationsteam aus Tim Sandweg (Künstlerischer Leitung), Yasmine Salimi (Festivaldramaturgie), Beate Absalon und Sebastian Köthe (Diskursprogramm) hat sich zur Einstimmung auf das Festival zu einem Gespräch verabredet.

Zum Programm / Complete programme

Gestaltung: HawaiiF3

__

Beate: Hat das Figurentheater eigentlich eine besondere Affinität zur Unsicherheit? Man spricht ja auch bei fragilen Lebenssituationen vom Hängen an einem seidenen Faden – gleich einer Marionette. Und vielleicht ist auch die Ausbildung im Figurenspiel für besorgte Eltern jetzt nicht der abgesicherteste Beruf… Darüber hinaus fällt beim Objekttheater eine Liebe zum Andeuten auf, wenn die Erzählungen nicht auserklärt werden, sondern Raum für Interpretation lassen …

Yasmine: Das ist eine interessante Frage, denn ich hätte in dem Zusammenhang eher an Tänzer*innen gedacht: Ich finde es sehr verunsichernd, sich dermaßen auf den eigenen Körper als Arbeitsmittel verlassen zu müssen. Im Figuren- und Objekttheater hat man ja immer noch andere Mitspieler*innen, die keine menschlichen Körper sind – du musst dich dann natürlich darauf verlassen können, dass diese anderen Dinge, sei es ein bestimmtes Material, eine Puppe, ein Objekt, ein Roboter oder andere Technik so funktionieren, wie du das möchtest. Ich habe im Theaterkontext z. B. eher verunsichernde Erfahrungen mit Bluetooth-Verbindungen gemacht, die künstliche Stimmen und Mitspieler*innen aktivieren sollten … Berufe im Theater- und Performancebereich sind ja generell prekär, aber ich stelle mir das Älterwerden im Figuren- und Objekttheater weniger verunsichernd vor als z. B. im Tanz. Ich glaube, es sind eher das Nischendasein und die stereotypen Vorstellungen von Puppenspiel, die bei diesem speziellen Genre – z. B. bei den Eltern – für Verunsicherung sorgen.

Gestaltung: HawaiiF3

Sebastian: Anfang des Jahres haben wir vier angefangen, gemeinsam über »Theater der Dinge 2022« zu grübeln und uns so auch gegenseitig kennenzulernen. Denn das ist ja eine neue Konstellation hier: zum ersten Mal ist Yasmine dabei und zum ersten Mal waren wir – Sebastian und Beate – so sehr in die kuratorische Planung involviert. Tim – Warum das größere Team?

Tim: Den Wunsch, das kuratorische Team zu vergrößern, habe ich schon sehr lange. In der Vergangenheit, etwa bei Theater der Dinge 2017« oder beim Festival »Klang der Dinge«, hatten wir ja auch bereits Künstler*innen in die Festivalleitung eingeladen. Dabei hat sich für mich aber gezeigt, dass die Gestaltung eines Festivals genauso wie eine Theaterproduktion ein fragiler Prozess ist und dass es einige Vorarbeit braucht, bis sich Teams finden, die sich vertrauen – was für mich die elementare Basis künstlerischen Arbeitens ist. So blicken wir ja auch auf längere gemeinsame Wege zurück und wir konnten schon miteinander Erfahrungen sammeln und unsere Positionen kennenlernen. Anfang des Jahres hatte ich dann das Gefühl, es ist jetzt der richtige Zeitpunkt mit dem Vorschlag zu kommen, ob wir nicht enger konzeptionell und im Programm zusammenarbeiten wollen.

Yasmine: Ich bin ja jetzt zum ersten Mal dabei, aber darf ich zurückfragen: Was hat sich denn für Euch, Beate und Sebastian, in diesem Jahr grundlegend geändert, was Eure Einbindung und Arbeit beim Festival angeht?

Sebastian: Vorher sind wir im September dazugekommen und haben auf Basis einer fertigen Ankündigung und Festivalbeschreibung Gastautor*innen für den Blog gesucht und einen Workshop konzipiert. In diesem Jahr waren wir bereits ab Februar dabei und haben ebenso mitüberlegt, wie man das Festivalthema beschreiben, verstehen, benennen kann. Das Diskursprogramm ist im Vergleich zur Zeit vor Corona auch gewachsen, mit Workshops, Publikums- und Panelgesprächen und unseren Gästen aus der Wissenschaft. Weil wir viel früher damit anfangen, können wir mehr Wechselwirkungen entfalten – zwischen Gästen und Produktionen, aber auch zwischen Diskurs- und Hauptprogramm. Darüber hinaus lerne ich jetzt auch, wie viele praktische Herausforderungen in Sachen Reisen, Räume, Budgets, Technik, Aufbauzeiten Tim und das Team der Schaubude meistern müssen … 

Beate: Genau, und zum ersten Mal waren wir auch in den langen Prozess der Titelfindung und des nerdigen Feilens an begrifflichen Details mit eingebunden. Können wir das nochmal gemeinsam rekapitulieren, wie es schließlich zum Titel »Spuren der Verunsicherung« kam?

Yasmine: Ich habe es so erlebt, dass wir zum einen auf ein Grundgefühl reagiert haben, das in diesem Jahr auf breiter gesellschaftlicher Ebene besonders spürbar wurde und das sich zum anderen als roter Faden durch inhaltlich und formal sehr unterschiedliche Produktionen und Festivalbeiträge ziehen ließ. Es ist zwar viel von den „Unsicherheiten“ die Rede, die Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Klimawandel verursachen, aber diese und andere globale Phänomene, etwa repressive Systeme und faschistische Tendenzen, koloniale, imperiale und extraktive Verhältnisse haben nicht nur ein diffuses Gefühl von Unsicherheit, sondern auch wirklich existenzielle Bedrohungen zur Folge.
Da geht es ganz oft ja gar nicht darum, dass man sich unsicher wäre, was jetzt „das Richtige“ wäre, sondern dass die Sicherheit des Lebens gefährdet ist. Wenn wir die Frage eher auf künstlerische Positionen beziehen, um die es ja bei uns letztendlich geht, kann die Verunsicherung hingegen auch ein Ziel sein, das sehr kraftvoll ist. Das schließt dann eine Handlungsmacht ein und nicht nur ­– aber auch – einen Zustand als Ergebnis äußerer Umstände.

Die Qualität der Institution ist ja, dass sie einen sicheren Rahmen schafft, in dem der unsichere künstlerische Prozess eingebettet ist, dass sie eine Struktur schafft, auf die sich die Künstler*innen verlassen können. Der Nachteil ist aber eine gewisse Unbeweglichkeit in der Institution und ich vermute, wir müssen sie auch verunsichern, um mit den Transformationen weiterzukommen.

Tim: Vielleicht kann ich noch meine institutionelle Perspektive ergänzen: Wir haben uns in der Schaubude im vergangenen Jahr sehr viel mit den gesellschaftlichen Transformationsprozessen und der Frage, wie wir kommunizieren wollen, beschäftigt. Dabei habe ich viel darüber nachgedacht, wie das Verhältnis von Sicherheit und Unsicherheit in der Kunstproduktion und in einer Theaterinstitution ist. Die Qualität der Institution ist ja, dass sie einen sicheren Rahmen schafft, in dem der unsichere künstlerische Prozess eingebettet ist, dass sie eine Struktur schafft, auf die sich die Künstler*innen verlassen können. Der Nachteil ist aber eine gewisse Unbeweglichkeit in der Institution und ich vermute, wir müssen sie auch verunsichern, um mit den Transformationen weiterzukommen. Dieses Verhältnis von sicher und unsicher interessiert mich gerade besonders.

Beate: Ich erinnere mich zudem, dass es uns wichtig war, nicht von etwas Statischem und Fixen wie der Unsicherheit zu sprechen, sondern eher das Prozesshafte und Wandelbare zu betonen. So kam es zur Verunsicherung, weil da etwas aktiv passiert. Deswegen ist in der englischen Übersetzung auch nicht die Rede von „insecurity”, was mich eher an das Rufen eines Sicherheitsteams zur Problemlösung denken lässt, sondern „unsettling”. Das ist ein Wort, in dem für mich eher der lebendig wackelige Boden spürbar wird und Gefühle auftauchen, weil es mich leicht gruselt… 

Und doch bleibt etwas, was aber auch vergänglich und fragil sein kann, deswegen die „Spuren” respektive „remains” im Titel. Wem oder was sind die Inszenierungen auf der Spur; welche Spuren könnten sie hinterlassen?

Yasmine: Die „Spur” betont, dass es eine materielle Verankerung der Verunsicherung gibt – als deren Anstoß, Folge oder Ausdruck. Es geht zum Teil um koloniale Spuren in Biografien, in Gips und Kartoffeln (»Fünf Exponate«), in menschlichen Gebeinen in Museen (»Gutta«), in architektonischen Bauten wie einem Opernhaus und einem Fußballstadion im Regenwald (»Teatro Amazonas«) oder auch in Reiterstandbildern im Stadtraum (»to build to bury to remember«). Es geht auch (in so unterschiedlichen Beiträgen wie »War Maker« oder »Tiefenrausch«) um die Spuren von Krieg, Migration und Repression, Hoffnung und Überleben, die sich in Objekten und Bildern, Stimmen und Liedern, im Erinnern und Erzählen manifestieren. Dabei werden immer wieder Geschichten rekonstruiert, auch mit digitalen Mitteln (im Live-Game »Inbetween – die andere Stadt«). In (nicht nur menschlichen) Körpern zeigen sich Spuren pharmazeutischer Verfahren (»Wetware«) und Abhängigkeiten (»Romanze«). Objekte und Materialien legen eigene Spuren, erzählen Geschichten, kreieren Bilder und Klänge ganz unterschiedlicher Art. In mehreren Produktionen spielt z. B. das Element Luft eine Rolle, das eigentlich immer nur auf performative Weise Spuren hinterlassen kann (u. a. bei »Aero«).

  • Eingegipster Mensch vor blauen Visuals.
  • Ein Mann filmt mit einer alten Videokamera eine Pinnwand mit verschiedenen Fotos.
  • Eine Frau steckt, in rotes Licht getränkt, verschiedene Teile zu einem Bühnenbild zusammen.
  • Um drei bipoc Frauen ist eng grüner Latex geschlungen, der sie bewegungsunfähig macht.
  • Zwei Hände schweben über einem kleinen Raummodell.
  • Eine Person sitzt zusammengekauert auf den Boden und ist von vielen kleinen weichen Puppen bedeckt
  • Bild von einem Tablet mit Augmented Reality Bild vor einer grünen Wiese.
  • Eine menschengroße Puppe betastet mit ihrer Hand nach dem Gesicht einer jungen Frau aus.
  • Zwei Menschen stehen neben einer großen Styroporpuppe
  • Ein bunt beleichtetes Seidentuch wird von Ventilatoren in der Luft gehalten und bewegt.

Tim: Ich denke gerade darüber nach, dass viele Zusammenarbeiten mit Künstler*innen auch Spuren hinterlassen haben und nach diesem Festival erneut hinterlassen werden. Husam Abed ist zum zweiten Mal bei uns zu Gast – als ich im Team der Schaubude erzählt habe, dass er mit einer neuen Produktion kommt, habe ich gemerkt, dass sein Gastspiel 2017 definitiv Spuren hinterlassen hat. Oder Shaday Larios und Jomi Oligor, die auch schon öfters bei uns waren: Auf die vorherigen Projekte, die teilweise schon über zehn Jahre zurückliegen, werde ich heute immer noch mit leuchtenden Augen angesprochen. Oder bei mir selbst: Ich freue mich wirklich sehr, dass wir mal wieder eine Produktion von Renaud Herbin dabei haben. Renaud ist von allen eingeladenen Künstler*innen der, den ich am längsten kenne – ich habe ihn als Student für das Festivalmagazin der Synergura in Erfurt interviewt und seine Arbeit, jetzt auch »Etwas Durchlässiges«, hat in meinem Verständnis von Animation definitiv Spuren hinterlassen. 

Sebastian, du hast die „Spuren” ins Spiel gebracht. Was hat dich an diesem tastenden Begriff interessiert?

Sebastian: Zu allem, was ihr schon ins Spiel gebracht habt, würde ich noch den Blick auf Vergangenheit und Zukunft ergänzen. In der Forensik versammelt und entziffert man Spuren, um Verbrechen aufzuklären – das resoniert für mich mit Inszenierungen wie »Gutta« oder »Fünf Exponate«. Gleichzeitig bedürfen Spuren – wie auch Theaterstücke – einer Kunst der Deutung, um an ihnen etwas ablesen zu können. Das Publikum ist also immer eingeladen, genau hinzuschauen und sich einen eigenen Reim auf das Gesehene zu machen. Für mich hat es etwas sehr berührendes, wenn sich Künstler*innen die Mühe machen, das, was oft übersehen oder vergessen wird, was wertlos oder nutzlos erscheint, was unlesbar und unsinnig scheint, mit viel Liebe zusammentragen und auf seiner Bedeutsamkeit beharren. 

Spuren zeigen also, dass die Vergangenheit immer noch in der Gegenwart insistiert. Und die „Spur”, die wir hinterlassen werden, ist natürlich eine gute Denkfigur, um über den eigenen Impact auf die Zukunft nachzudenken. Dabei denkt man natürlich auch an den ökologischen Fußabdruck. Das führt mich zu der Frage an Dich, Tim: Wie kann ein internationales Festival gleichzeitig nachhaltig sein?

Tim: Ich habe erst kürzlich erfahren, dass das Konzept des ökologischen Fußabdrucks durch eine Werbekampagne von BP international bekannt wurde: Ziel des Ölkonzerns war es, die Aufmerksamkeit vom Abdruck der Wirtschaft auf den individuellen Abdruck umzuleiten. Ich habe den Eindruck, dass das recht erfolgreich war und der Fokus von den aus meiner Sicht wirklich relevanten Problemerzeuger*innen abgelenkt wurde. Ich finde da ein Konzept wie Nachhaltigkeit momentan produktiver, auch, weil es nicht nur die ökologische Dimension einschließt, sondern das Zusammenwirken verschiedener Faktoren berücksichtigt und eine Frage an die Zukunft formuliert. Im Festivalkontext haben wir uns dafür schon in den vergangenen Jahren stärker sensibilisiert und wollen das Fortführen: Der ganze Bereich der Mobilität ist ein riesiges Thema, aber auch das Beschaffungsmanagement, die Ressourcennutzung und eben auch die soziale und programmatische Dimension. 

Und vielleicht ein letzter Gedanke noch: Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang noch einmal überdenken, was eigentlich “international” heißt und was wir damit meinen.

Gestaltung: HawaiiF3

Yasmine: Ich hatte die Gelegenheit, für dieses Festival nach Frankreich und die Schweiz zu reisen und ich muss sagen, ich bin noch nie so viel Zug gefahren! Denn es ist eines der Ziele des Festivals im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit, dass Flugreisen möglichst vermieden werden sollen. Es spielen natürlich auch viele weitere Faktoren eine Rolle, z. B. die verwendete Technik oder Infrastruktur der Spielstätten, aber als externe freie Dramaturgin stecke ich da persönlich weniger drin.

Beate: Verunsicherungen gehören zu Leben und Kunst dazu. Damit umzugehen bedarf der klugen Strategien des Ausweichens, der Förderung von Resilienzen und Widerstandskräften, aber auch das Schaffen von Inseln der Erholung und von geschützten Räumen, sogenannten Safer Spaces. Wie wird auf institutioneller Ebene an der Schaubude an diesen Fragen gearbeitet?

Yasmine: Auch hier spreche ich aus der ambivalenten Position einer freien Dramaturgin, die selbst nicht Teil der Institution ist, aber durch die Gestaltungsmacht im Rahmen des Festivals auch eine institutionelle Verantwortung trägt. Langfristig wäre es schon ein Ziel, dass es innerhalb des Festivals geschützte Räume für Erfahrungsaustausch und Empowerment marginalisierter Künstler*innen gibt, wobei dann immer die Frage ist, wie und von wem so etwas in die Wege geleitet wird, d. h. auf welchen konkreten Bedarf es dann auch antwortet. Das geht nur Hand in Hand mit einer gewissen Teilhabe auf, vor und hinter der Bühne, sodass nicht von Anfang an Räume abgegrenzt sind, sondern die vorhandenen Räume erst einmal ausgeweitet werden und auch eine Wechselwirkung zwischen den Räumen besteht. Das setzt auch Lernprozesse innerhalb der Institution selbst voraus – ich glaube, in diese Richtung wurde in den letzten Jahren einiges auf den Weg gebracht. Ich persönlich glaube nicht, dass irgendein Raum wirklich “safe” ist, aber das sollte nicht davon abhalten, darauf hinzuarbeiten, dass sich in den geteilten Räumen im Kontext des Theaters nicht dieselben Aggressionen wie im Alltag wiederholen. Als freie Künstlerin habe ich es so erlebt, dass der kreative Prozess als künstlerisches Team an der Schaubude einen ziemlich geschützten Raum im Sinne eines Freiraums beinhaltet. Die Institution unterstützt in dem Fall das künstlerische Team bei der Umsetzung, wie Tim es eingangs beschrieben hat. Für mich stellt sich immer wieder die Frage, wie solch eine Zusammenarbeit sich mit politisch sensibler (Selbst-)Kritik und Antidiskriminierung verbinden lässt.

Ich freue mich in diesem Kontext auch besonders auf den Workshop von Joris Kern, wo es auch um die Frage des Umgangs miteinander im Kontext von Safer Spaces geht. Beate, wie kam eigentlich die Verbindung zu Joris Kern zustande und wie ist es zu diesem Workshop gekommen?

Mich beschäftigt die Frage, wie man zusammen an potentiell unbehaglichen und riskanten Themen arbeiten kann, ohne dass einem alles um die Ohren fliegt und man um seine seelische wie körperliche Unversehrtheit bangen muss, nur weil man etwas Interessantes erleben wollte und dafür seine Komfortzone verlassen musste.

Beate: Als Workshopleiterin beschäftigt mich die Frage, wie man zusammen an potentiell unbehaglichen Themen arbeiten kann, ohne dass man um seine seelische wie körperliche Unversehrtheit bangen muss, nur weil man etwas Interessantes erleben wollte. Das spielt in den performativen Künsten eine Rolle, wie auch im Sport, in Hochschulseminaren, im Live Action Role Playing, in BDSM-Szenen oder aktivistischen Zirkeln. Da finden überall Grenzwanderungen statt, für die Regeln des Miteinanders her müssen. Sonst drohen Übergriffe, Trigger, Trauma oder das Wiederholen gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse.
Es gibt aber auch viele Missverständnisse, was Safer Spaces angeht: Dass man da nichts mehr machen und sagen darf, bevor man eine Art Vertrag unterschreibt; dass man sich durch die Betonung des Schutzes unterschätzt, zurückzieht, verweichlicht; dass Triggerwarnungen transformativen Erfahrungen im Weg stünden …
Da ich derzeit an einem Promotionsprojekt über all das arbeite, ist mir Joris’ Arbeit zu Konsenskulturen bekannt und ich schätze sehr den Ansatz, das Aushandeln gegenseitiger Einvernehmlichkeit nicht als universelle Methode der Entscheidungsfindung zu denken, mit der man es jetzt endlich ,richtig’ macht. Sondern als Herstellen einer wohlwollenden, einander das Beste gönnenden Atmosphäre. Das lässt mehr Raum für all die Seiltänze, in denen man immer schön die Unruhe bewahren muss und damit rechnet, dass auch mal etwas schief geht. Das schien mir genau das Interesse des Festivalthemas zu sein. Und um sich dem Thema nicht nur durch die Rezeption von Kunstwerken und Theorie zu widmen, machte es für mich Sinn, das Publikum auch zu einem hands-on-Workshop einzuladen, um pragmatisch zu erleben, wie sich mit Unklarheiten umgehen lässt.

Sebastian: Wo seid ihr selbst unsicher, was das diesjährige Festival angeht?

Tim: Es ist jetzt vielleicht zu pragmatisch und zu unkreativ geantwortet – aber tatsächlich merke ich auch nach zwei Jahren Pandemie immer noch die Unsicherheit, die Corona mit sich bringt. Das ist für die Organisation weiterhin eine riesige Herausforderung.

Yasmine: Wir sind ja selbst immer Teil der Verhältnisse, die wir kritisieren, und nicht davor gefeit, sie zu reproduzieren. Es gibt diesen Spruch: »Art should comfort the disturbed and disturb the comfortable«. Die Verunsicherung, sofern sie denn von den Festivalbeiträgen selbst ausgeht, sollte also in die richtige Richtung gehen. Aber wir können uns nicht sicher sein, wie das Festival am Ende tatsächlich erlebt wird.

Und dazu hätte ich eine Frage an Euch, Sebastian und Beate. Tatsächlich ist auch auf Ebene des Diskursprogramms das „comforting“ das Gegenstück zum „disturbing“. Ihr entgegnet der Verunsicherung mit dem Trost. Hanna Engelmeier hält einen Vortrag zum Thema „Trost“ und ihr beide macht ein »Theoriecafé« über die tröstlich-toxischen Dinge, an denen wir (uns) festhalten, auch wenn sie uns nicht gut tun. Welche Verbindungen seht Ihr zwischen Verunsicherung und Trost im Festivalprogramm?

Im Trost, das ist unser Interesse daran, kann man gleichzeitig das Verunsichernde spürbar machen, ohne sich ihm auszuliefern. 

Sebastian: Die Idee dahinter ist, dass sich Künste und Theorien sehr oft mit schlechten Gefühlen, Negativität und der Kritik von Machtverhältnissen beschäftigen. Das ist natürlich sehr wichtig! Gleichzeitig wollen wir im Diskursprogramm den Finger darauf legen, dass Künste und Theoriearbeit auch etwas Reparatives, Fürsorgendes oder eben Tröstliches haben können. Während Kritik oft ein Air von Souveränität und – ein Schlüsselwort der Gegenwart – Empowerment hat, wollen wir der Schwäche, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit etwas mehr Raum schenken. Als Menschen bedürfen wir des Trostes, weil wir manchmal nicht weiter wissen, weil wir leiden, weil wir verunsichert sind. Im Trost, das ist unser Interesse daran, kann man gleichzeitig das Verunsichernde spürbar machen, ohne sich ihm auszuliefern. 

Tim, Du bist nun schon seit 2015 Künstlerischer Leiter von Theater der Dinge – stellt sich da irgendwann eine Routine ein oder steckt jedes Jahr voller Überraschungen?

Tim: Klar, stellt sich Routine ein. Und ganz ehrlich: Ohne diese Routine könnten wir das Festival auch nicht jedes Jahr machen – sie schafft eine Basis, die wir brauchen, um dann mit den Unwägbarkeiten umzugehen. Insofern auch: Klar, jedes Jahr steckt voller Überraschungen, alleine schon dadurch, dass jedes Jahr neue Menschen dabei sind und die Festivalspielstätten wechseln. Aber auch das Programm war die letzten drei Jahre wegen der Pandemie so komplett unterschiedlich: 2020 alles virtuell, 2021 fast ausschließlich Installationen, Filme und One-to-One-Performances und 2022 dann wieder auf großen Bühnen. Insofern ist es natürlich auch immer Aufgabe der Festivalleitung, die Routine herauszufordern. 

Beate: Yasmine, gibt es eine Inszenierung aus dem Festival, auf die du dich besonders freust?

Es bedeutet mir persönlich auch viel, dass wir die Performance »L’Ivresse des profondeurs« / »Tiefenrausch« zeigen, in der Sayeh Sirvani viele Elemente der iranischen Kultur und Zeitgeschichte aufgreift, die mir zum Teil selbst vertraut sind. Im Iran findet gerade eine revolutionäre Bewegung statt, deren Bedeutung in Deutschland bisher stark unterschätzt wird. In solch einem historischen Moment, der mit unheimlich viel Schmerz verbunden ist, kann Theater Anlass zur Zusammenkunft sein und vielleicht auch gemeinsame Hoffnung spürbar machen.

L’Ivresse des profondeurs« / Tiefenrausch, Foto: Coralin Charnet

Yasmine: Es ist eigentlich gar nicht möglich, hier eine einzelne Produktion hervorzuheben. Aber ich freue mich z.B. auf »Fünf Exponate«, weil ich hiervon schon einen vielversprechenden Zwischenstand gesehen habe und auch auf »La melancolia del turista«/ »Die Melancholie des Touristen«, weil ich selbst davon im Gegenteil noch gar nichts gesehen habe. Auch »to build to bury to remember« wird als installativ-performatives Format für mich eine neue und spannende Erfahrung in diesem Festivalkontext sein. Außerdem bin ich gespannt darauf, die Performance »Whirlpool« von Shahab Anousha, die ich als Video gesehen habe, mit Publikum zu erleben und herauszufinden, ob andere durch diese humorvollen Irritationen ebenso berührt werden wie ich – auf eine geradezu tröstliche Art. Es bedeutet mir persönlich auch viel, dass wir die Performance »L’Ivresse des profondeurs« / »Tiefenrausch« zeigen, in der Sayeh Sirvani viele Elemente der iranischen Kultur und Zeitgeschichte aufgreift, die mir zum Teil selbst vertraut sind. Im Iran findet gerade eine revolutionäre Bewegung statt, deren Bedeutung in Deutschland bisher stark unterschätzt wird. In solch einem historischen Moment, der mit unheimlich viel Schmerz verbunden ist, kann Theater Anlass zur Zusammenkunft sein und vielleicht auch gemeinsame Hoffnung spürbar machen.

  • Collage aus verschiedenen Objektfotos und der Fotografie eines kleinen Mädchens.
  • Um drei bipoc Frauen ist eng grüner Latex geschlungen, der sie bewegungsunfähig macht.

Zum Programm / Complete programme

Related: