Laia RiCa: Deutsche koloniale Spuren in Mittelamerika

#TakeCareResidenzen, Projektzeitraum Januar bis Februar 2021

»Wir wissen ja alles! Was machen wir mit diesem Wissen?«

Aus dem Video zur Recherche

Es ist eigentlich kein Geheimnis. Etwa, dass der Wohlstand der deutschen Gemeinde in Guatemala mit dem örtlichen Kaffee- und Zuckerboom zusammenhängt. Dass dieser ermöglicht wurde durch Enteignungen und Zwangsarbeit, legitimiert durch NS-Propaganda und ein aus dem kolonialen Kontext ›Deutsch-Südwestafrika‹ übertragenes Gesetz. Oder dass es bis heute Kontinuitäten gibt – in rassistischen Diskursen, aber auch wirtschaftlich.

Was machen wir mit diesem Wissen? fragte sich Laia RiCa in ihrer szenischen Recherche zu den politischen Produktionsbedingungen zweier Exportschlager. Hier gibt sie erste Einblicke in ihren performativen Umgang mit dem dokumentarischen Material. Physisch und visuell spielt sie dabei mit verschiedenen Zuständen von Kaffee und Zucker.

Koloniale Spuren now & then

Die Geschichte der deutschen Einwanderung in Mittelamerika ist eng mit der Kaffee- und Zuckerrohrproduktion verbunden. Viele Deutsche emigrierten Mitte des 19. Jahrhunderts und in den 1920er Jahren dorthin und ließen sich insbesondere in Guatemala nieder. Sie profitierten von der staatlichen Enteignungspolitik von Gemeinschaftseigentum und wurden Großeigentümer von Kaffee- und Zuckerrohrplantagen. In den 1930er Jahren wurden 60 % des guatemaltekischen Kaffees nach Deutschland exportiert. Die deutschen Familien in Guatemala kontrollierten ein Drittel der Kaffeeproduktion und zwei Drittel des Exports nach Europa.

Der Nationalsozialismus verbreitete sich auch in Guatemala und in den Regionen Mittelamerikas: In Guatemala wurde ein Ableger der NSDAP sowie ein »Deutsches Haus« gegründet, das als Versammlungsort der Nationalsozialisten diente. Guatemala galt als Zentrum der Nazi-Propaganda in Mittelamerika: Hier erschien das NS-Kommunikationsorgan »Deutsche Zeitung«; deutsche Kultur- und Bildungseinrichtungen vor Ort wurden von nationalsozialistischen Diskursen geprägt. Im Jahr 1934 verfasste Erwin Paul Dieseldorff, ein deutscher Nazi-Kaffeebaron in Guatemala und enger Mitarbeiter des damaligen autoritären Präsidenten Jorge Ubico, das »Gesetz gegen das Vagabundentum« (Ley contra la Vagancia). Dieseldorff stützte sich dabei auf die Sklavengesetze des deutschen Kolonialreichs im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und übersetzte diese. Das Gesetz wurde 1934 vom guatemaltekischen Abgeordnetenhaus verabschiedet und verpflichtete die indigene Bevölkerung zu 150 Tagen Zwangsarbeit pro Jahr in den Plantagen.

Der Wohlstand der deutschen Gemeinde in Guatemala gründete auf dem Kaffeeboom und dauert bis heute nahezu ununterbrochen an. Sie ist Teil der wirtschaftlichen und politischen Elite in Mittelamerika. In ihrer Geschichte und in ihrer Gegenwart finden wir viele Spuren kolonialer Kontinuitäten und rassistischer Diskurse.

Soziologische & filmische Quellen

In der Recherche habe ich mich mit der Studie Guatemala: linaje y racismo (»Guatemala: Abstammung und Rassismus«) der guatemaltekischen Soziologin und Politikwissenschaftlerin Dr. Marta Elena Casaús Arzú auseinandergesetzt. Das Buch war ein Meilenstein in der Geschichte Guatemalas und Mittelamerikas und löste eine öffentliche Debatte über das Thema Rassismus in Guatemala aus.

Dazu kam der Film Los Civilizadores: Alemanes en Guatemala (»Die Zivilisationsbringer. Die Deutschen in Guatemala«) – eine umfangreiche Untersuchung des deutschen Autors und Regisseurs Uli Stelzner von 1998. Der Film interviewt und zeigt die Lebensbedingungen von mehreren Generationen deutscher Familien im Land. Deutsche Kaffeebarone und Industrievertreter erzählen darin ihre Perspektive auf die Geschichte und Gegenwart am Ende des 20. Jahrhunderts.

Dieser Dokumentarfilm ist ein wichtiger Bestandteil im Ringen um Menschenrechte und um die Dekolonisation in Guatemala. Nach der Premiere erhielt der Regisseur Drohungen aus der Deutschen Gemeinde in Guatemala, so dass der Film unter dem Schutz von UNO-Mitarbeitern aufgeführt werden musste.

Szenische Arbeit

Performativ Antworten suchen, Video zur Recherche


Während der Recherche habe ich mit Fragmenten aus diesen zwei Quellen sowie mit dem oben genannten Gesetz von 1934 Ley contra la vagancia szenisch gearbeitet. Diese Fragen haben mich dabei begleitet:

Was machen wir mit diesem Wissen? Was machen wir mit diesem alltäglichen Konsum von Diskriminierungen? Was machen wir mit diesen Diskursen der Überlegenheit? Wie können rassistische und kolonialistische Botschaften ihre Macht verlieren?

Die szenischen Recherchen während der #TakeCareResidenz und der Fidena-Residenz dienten als Grundlage für die Weiterentwicklung des Stücks »Kaffee mit Zucker?«, das am 6. Mai (tbc) in der Schaubude Berlin Premiere hat.


Laia Ribera Cañénguez ist eine in Berlin lebende Künstlerin, die sich in ihrem Schaffen zwischen Dokumentar- und Objekttheater, zwischen Physical und Visual Theater bewegt und einen starken Bezug zur Bildenden Kunst hat. Im Dazwischen verschiedener Theatergenres, Sprachen und geografischen Positionen sieht sie einen Möglichkeitsraum, um eigene und strukturelle Widersprüche zusammenzubringen. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich vor allem mit feministischen, postkolonialen und queeren Perspektiven.

Fotos: Antonio Cerezo