Annemie Twardawa: DAS JENSEITIGE AMT (AT)

#TakeCareResidenzen, Projektzeitraum Februar bis März 2021

Am Anfang war ein Gedankenspiel: Meine Mutter, als linke Intellektuelle, trat mehrmals aus der Kirche aus. Aber die christliche Erziehung saß tief und aus schlechtem Gewissen trat sie immer wieder ein. Seit sie tot ist, verorte ich sie irgendwie eher oben. Im Himmel. Auf einer Wolke. Ich bin Atheistin, aber wenn ich nun aus einer Übersprungshandlung heraus zu einer Religion konvertierte, zum Beispiel aus Liebe Muslimin würde oder im Rahmen eines spirituellen Selbstfindungstrips Buddhistin, kämen wir dementsprechend in unterschiedliche Jenseits und wären nie wieder vereint!

Es sei denn, es gäbe ein Reisebüro im Jenseits. In das man gehen kann, um zwischen den Jenseits hin und her zu reisen.

Stoff für einen Film! Einen Puppenfilm.

»There could be an afterlife, …«

Thematische Recherche

Es macht Sinn, dass Papst Benedikt 2007 entschied, die Vorhölle, in die ungetaufte Kinder kommen, abzuschaffen. Ich frage mich aber, warum erst 2007 und warum er die andere Hölle nicht auch gleich mit abgeschafft hat und den Glauben, dass Frauen, die abgetrieben haben, dorthin müssen.

Ich frage mich, wie es ist, in der heiligen Stadt Varanasi aufzuwachsen, in der die höchste hinduistische Kaste zum Sterben hingeht. Nur sie hat die Chance, hier in dieser Stadt vom leidvollen Kreislauf der Wiedergeburt befreit zu werden und endlich richtig zu sterben.


Ich frage mich, ob ich mich bei Alcor für 180.000 Euro (plus 170 Euro im Jahr für die Aufbewahrung) einfrieren lassen sollte, um in voraussichtlich 50 bis 100 Jahren wieder auferweckt zu werden und dann von der verbesserten Lebensverlängerungsforschung zu profitieren.

Ich frage mich, wie lange ich leben wollen würde, wenn ich es mir aussuchen könnte und denke so 150 bis 200 Jahre wären ideal. In dieser Zeit würde ich wahrscheinlich alles schaffen, was ich mir vorgenommen habe.

„… but afterlife could be pretty much like this life, only longer.«

Workshop-Konzeption

Der Tod hat etwas Verbindendes. Es ist schwer, ihn mit dem Verstand zu fassen. Zum Glück haben wir unsere Fantasie. Oft geprägt von kulturellen und religiösen Hintergründen gibt es unendlich viele individuelle Vorstellungen und Bilder vom Jenseits. Diese können als Hoffnungsspender oder Unterdrückungswerkzeug funktionieren und erzählen viel von der Geschichte einer Gesellschaft. Gleichzeitig ist durch die Ungewissheit über das, was nach dem Sterben mit der Seele passiert, der menschlichen Fantasie freier Lauf gelassen.

Das Reden über den Tod ist ein Tabu, dabei sind die fantastischen Variationen vom Jenseits voller Kreativität, Wünsche, Ängste, die eine persönliche Haltung zum Leben widerspiegeln oder eine bestimmte politische Situation und Missstände offenbaren können.

»But After life. Why, after all, should one not be born there as one is born here, helpless, speechless, unable to focus one’s eyesight, groping at the roots of the grass, at the toes of the Giants?«

― Virginia Woolf

Puppenfilm-Recherche

Wie kombiniere ich Puppen, Schauspiel und Spezialeffekte? Aus welchem Material sind die Puppen hergestellt? Silikon, Latex? Können sie den Mund bewegen oder sogar die Augen? Sind es Animatronics oder Klappmaulpuppen? Können sie laufen? Welche Form unterstützt den Inhalt am besten? Wie nimmt die Form auf den Inhalt Bezug? Die Sichtbarkeit des Puppenspielers als metaphorischen Kunstgriff zu benutzen scheint inhaltlich passend. Wird es ein Langfilm, ein Serienformat oder ein Hybrid aus Theater und Film? Wie ist die Stimmung und wer sind die Mitarbeiter in dem Reisebüro? Wie sind ihre Beziehungen untereinander? Was sind die Auflagen für die Reisenden? Wer will eine Reise antreten, warum und wohin?

Ich bestelle mir ein Animatronicset für den Puppenbau und probiere mit der Handykamera rum, um mögliche Stimmung, Ästhetik, Filmsprache  auszutesten.


Annemie Twardawa studierte Puppenspiel und Schauspiel in Buenos Aires sowie Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst «Ernst Busch« in Berlin. Es folgten ein Festengagement am Theater Junge Generation Dresden sowie zahlreiche Gastengagements und freie Produktionen im In- und Ausland. Seit 2012 ist sie festes Mitglied der Performancegruppe LOVEFUCKERS. In der Berliner Theaterszene ist sie u. a. durch »Army of Lovefuckers« (Premiere 2017 in den Sophiensaelen), »Die Schöne und das Biest« (Premiere 2018 in der Schaubude Berlin) und »Müllrose« (Premiere 2018 im Ballhaus Ost) bekannt. Derzeit ist sie als freiberufliche Puppenspielerin und -bauerin tätig.