Cora Sachs: ANATOMIE DER GUTEN HOFFNUNG

#TakeCareResidenzen, Projektzeitraum Februar bis März 2021

Bild: Mara Wild

»Unter Schmerzen hast du empfangen, unter Schmerzen sollst du gebären.«*

Als Grundlage für eine traurig-absurde Inszenierung zum Politikum Mutterleib in der kommenden Spielzeit dienen die während der Residenz recherchierten Dokumente aus Medizingeschichte und Gerichtsprozessen, aus theologischen Pamphleten, Mediävistik und aktuellen medialen Diskussionen. Sie ergeben ein vielschichtiges Bild, ein Mosaik:


*Eines der verbreitetsten Hebammenbücher aus dem Jahr 1580 von Jacob Ruff ist überschrieben mit folgendem Bibelzitat: »Und zum Weib sprach Gott der Herr: Ich will dir Schmerzen schaffen/ wenn du schwanger wirst/ Du sollst mit Schmerzen deine Kinder gebären/ und dein Will soll deinem Mann unterworfen seyn/ und er soll dein Herr seyn.«

Die Weltgesundheitsbehörde schätzt, dass an den Folgen illegaler Abtreibungen weltweit 70.000 Frauen im Jahr sterben und Hunderttausende furchtbare Infektionen bekommen und unfruchtbar werden. Das bedeutet, dass die Zahl der Frauen, die heute jährlich sterben, weil ihnen das Recht verweigert wird, selbst über ihren Körper zu entscheiden, höher ist als die Zahl der Opfer, die der Hexenwahn des 16. Und 17. Jahrhunderts in seiner Blütezeit jährlich gefordert hat. Wie damals ist die Frauenfeindlichkeit der christlichen Kirche maßgeblich mitverantwortlich für dieses unnötige Leid (siehe auch die aktuellen Proteste in Polen).

Zitatsammlung

»Niemand schadet dem katholischen Glauben mehr als die Hebamme.«

Hexenhammer (Malleus Maleficarum), 1486

»Könnten Männer schwanger werden, wäre Abtreibung ein Sakrament.«

Florynce R. Kennedy (amerikanische Anwältin, Feministin, Bürgerrechtlerin, Dozentin und Aktivistin)




Leonardo da Vinci um 1510 – Skizzen und Formen, die er an der Planzenta einer Kuh studierte; in: Geo Magazin 1/2013

»Fast überall auf der Welt geht die Müttersterblichkeit zurück. Aber! Nicht in den USA, wo sich die Zahlen seit den 1980er Jahren mehr als verdoppelt haben. Inzwischen haben die USA die höchste Müttersterblichkeit in der entwickelten Welt, und die Situation verschlechtert sich weiterhin, besonders für schwarze Frauen.«

Joni Saeger, 2020: Der Frauenatlas
Geburtshilfliches Phantom Mme du Coudray, 1778, aus Jürgen Schlumbohm: Lebendige Phantome – Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830

»Wie konnte eine so schwere Bürde aus Tod, Krankheit und Invalidität so lange fortbestehen, ohne dass es einen lauteren Aufschrei gegeben hätte?… Eine Hebamme formulierte es einmal so: ›Würden jedes Jahr Hundertausende von Männern leiden und sterben, alleine, voller Angst und unter Todesqualen, oder würden Millionen Männer verletzt,  versehrt und gedemütigt, mit schwerwiegenden Verletzungen und Genitalwunden, die nicht behandelt würden, ihnen aber ständige Schmerzen und einen Horror vor Sex verursachten und sie außerdem inkontinent machten, hätten wir alle schon vor langer Zeit davon gehört und es wäre etwas getan worden.‹«

UNICEF, zit. in: Joni Saeger, 2020: Der Frauenatlas

»Früher hab i im Krankenhaus selber nähen dürfen, und jetzt hat ma’s uns aus die Händ gnommen, natürlich, weil die Ärzte wollen ja auch verdienen, mir haben nix verdient dabei, aber sie haben verdient und des is glaub i haut a no: Es dreht sich nur ums Geld.«

Aus Daphne Schlorhaufer: »…die Sonne soll über einer Gebärenden nicht zweimal untergehen.« – Der Arbeitsalltag der letzten Tiroler Landhebammen, in: Hermann Heidrich (Hrsg.), 1999: Frauenwelten
Mae M. Bookmiller, George L. Bowen, 1949: Textbook of obstetrics and obstetric nursing

»Bei den Frauen verhält es sich wie bei den Stuten: Die breithüftigen sind nicht die, die man am liebsten besteigt, aber dafür gebären sie leicht.«

Dr. Yves Aubard, Kongress des frz. Verbandes der Gynäkologen und Geburtshelfer, 7.12.2018 (!)

»Eine Ausbildung zum Geburtshelfer an einer Entbindungsanstalt oder Universität konnte der Arzt Johann Julius Walbaum (1724-1799) nicht vorweisen. Dafür hatte er 1752, vier Jahre nach seiner Ankunft als junger Doktor der Medizin in Lübeck, in einer anonymen Druckschrift alle Hebammen als unfähig, unwissend und schlecht ausgebildet abqualifiziert.«

Christine Laytved, Bettina Wahrig-Schmidt, 1998: »Ampt und Ehrlicher Nahme«: Hebamme und Arzt in der Geburtshilfe Lübecks am Ende des 18. Jahrhunderts

»Geburt ist nicht mehr etwas, das Frauen können, sondern etwas, wozu sie in einem verwaltenden sozialen Vorgang gebraucht werden. Nicht ein selbstbewusstes Tun, sondern eine Lebenskrise, die nur durch Dienstleistungskonsum zu überstehen ist.«

Barbara Duden: Die Ungeborenen. Vom Untergang der Geburt im späten 20. Jahrhundert (Online-Artikel)

»Auf den meisten Gebieten des gekonnten Tuns war, ist und bleibt Selbstvertrauen und Vertrauen entscheidend, und von keinem Tun gilt das mehr als dem Gebären, bei dem der physiologische Vorgang einzigartig von der psychologischen Haltung determiniert wird.«

Majorie Tew, 1994: Safer childbirth? A critical history of maternity care (dt. zit. in Barbara Duden, s.o.)

»Die zahlreichen Schülerinnen, die sie ausgebildet hat, zeugen von ihrem Eifer und ihrem Sachverstand. Sie wußte sich der Auffassungsgabe einer jeden Zuhörerin anzupassen, und so konnten alle von ihren Lektionen profitieren. Sie suchte nicht durch brillanten Vortrag Bewunderung zu erhaschen; vielmehr konzentrierte sie sich auf das, was wirklich der Ausbildung guter Hebammen diente.«

Aus der Preisverleihung von 1822 über die Chefhebamme Marie-Louise Lachapelle am Hotel-Dieu, Paris

»Gewisse … Frauen erwärmen die todten Kinder zwischen glühenden Kohlen und ringsum hingestellten brennenden Kerzen und Lichtern. Dem war gewordenen todten Kinde oder der Frühgeburt wird eine ganz leichte Feder über die Lippen gelegt und wenn die Feder zufällig durch die Luft oder die Wärme der Kohlen von den Lippen weg bewegt wird, so erklären die Weiber, die Kinder und Frühgeburten atmeten und lebten und sofort lassen sie dieselben taufen unter Glockengeläute und Lobgesängen. Die Körper der angeblich lebendig gewordenen und sofort wieder verstorbenen Kinder lassen sie dann kirchlich beerdigen…«

Bischof von Konstanz Otto von Sonnenberg über den Vorgang der Wiedererweckung, Entwurf eines Briefes 1486, aus dem Lateinischen übersetzt
Rudolf Chrobak: 1843–1910 – Geburtshilfe und Gynäkologie im Hörsaal, Bild: Ferdinand Schmutzer

»In Erlangen hielt damals der Professor in einem unglaublich dürftig ausgestatteten Auditorium öfters über die einzige, mitten unter den Studenten, an dem runden Tisch sitzende Schwangere seinen Vortrag. – In Giessen stand in der Untersuchungsstunde die Schwangere hinter einem dicken Vorhang und der Praktikant durfte nur durch einen Schlitz des Vorhanges seinen Finger in die Genitalien der aufrecht stehenden Schwangeren einführen, worauf der Praktikant über den Befund referierte. – In Göttingen sah man in der abendlichen Untersuchungsstunde die Schwangere auf einer Art von Katafalk aufgebahrt. Ein von der Decke hängender Vorhang verdeckte die Gesichtszüge der Schwangeren den Augen der Studenten. Ein fremder Besucher glaubte in ein Sektionslocal zu kommen.«

Rudolf Dohrn, 1903-1904: Geschichte der Geburtshülfe der Neuzeit

»Daß unter der Entbindung bis zu einem Dutzend Studenten die Gebärende innerlicht untersuchen durften, daß Instrumente zur Anwendung kamen und daß im Todesfall der Körper auf die Anatomie gebracht werden konnte, all dies war in der Bevölkerung bekannt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die ledige Magd Elisabeth Gunkel ihr Kind heimlich auf dem Misthaufen zur Welt brachte.«

Marita Metz-Becker, 1998: Die Sicht der Frauen. Patientinnen in der Marburger Accouchieranstalt um die Mitte des 19. Jahrhunderts
Friedrich Benjamin Osiander (1759-1822): Tagebuch mit Fallgeschichten

»Die Geburtenregelung, die wohl immer Bestandteil der von Frauen praktizierten Gynäkologie war, wurde seit dem 16. Jahrhundert aus der medizinischen Wissenschaft ausgeschlossen. Der letzte Schutz der mittelalterlichen Frauen vor der totalen Ausbeutung ihrer Gebärfähigkeit war zerbrochen, in den Städten des 16. Jahrhunderts waren zwanzig Geburten im Leben einer Frau keine Seltenheit.«

Becker, Bovenschen, Brackert, 1977: Aus der Zeit der Verzweiflung – Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes
Geburtshilfliches Phantom, Jürgen Schlumbohm (s.o.)

»Gegenwärtige, gefangene und gebundene, maleficische, arme Weibsperson, Walpurga Hausmännin, hat auf gütliches und peinliches Befragen, nach beharrlichem und gleichförmigem berechtigtem Bezichtigen über ihre Hexerei bekannt und ausgesagt: … Er (der Teufel) hat sie auch gezwungen, die jungen Kinder bei der Geburt, und noch ehe sie zur heiligen Taufe gekommen sind, umzubringen und zu töten. Der Teufel hat ihr ganz besonders geboten, die erstgeborenen Kinder umzubringen…«

Bericht über den Spruch des Dillinger Stadtgerichts gegen eine ältere Hebamme, die am 20. September 1587 aufgrund dieses Urteils verbrannt wurde.

Cora Sachs lebt als freie Regisseurin, Kostüm- und Figurenbildnerin in Hamburg. Während ihres Kostümbildstudiums an der HAW Hamburg geht sie als Gaststudentin an die Hochschule für Bildende Künste nach Budapest mit dem dortigen Schwerpunkt Figurentheater und Szenografie. Es folgen Fortbildungen am Figurentheater-Kolleg Bochum und ein Studium der Schauspieltheaterregie an der Theaterakademie Hamburg. Seitdem realisiert und produziert sie ihre preisgekrönten Arbeiten für große und kleine Menschen in der freien Szene, für Festivals und am Staatstheater.