Anna Renner: Warten auf »Un-patriarchale Bildperspektiven«

Eine blonde, stark geschminkte Frau im sexy Kleid sprüht in einem Präventionsvideo ein Asthmamittel gegen ihren Hals, während die Aussage »Über 60% benutzen ihr Asthma-Medikament falsch« zu sehen und zu hören ist. Eine weiblich klingende Stimme stöhnt und soll als elektronisches Sample die Partymenge anheizen. Ein ausladendes Dekolleté auf einem Plakat freut sich über ein ÖPNV-Ticket.

Dass weibliche Körper ständig im öffentlichen Raum hör- und sichtbar sind, weil sie als Erfolgsgarant im Werbebusiness gelten – damit verbreite ich keine Neuigkeit. Doch was löst es aus, wenn einer dieser Körper zurückblickt und dadurch spricht? Was sieht dieser Körper? Also mein Körper, in diesem Fall.

Vorhaben

Unter dem Titel »Un-patriarchale Bildperspektiven« begann ich meine Residenz, voller Vorfreude, was meine Körperteile wohl sehen und welche Geschichten sie mir erzählen werden. Bauchnabel, Vulva, Knie, Brustwarze, Kehlkopf, Solarplexus, Anus, unerreichbare Stelle zwischen den Schulterblättern, Hinterkopf – mithilfe von Mikroskop-Kamera, Spiegelreflex-, Endoskop-Kamera und Mini-Überwachungskamera wollte ich ihre Perspektiven untersuchen.

Die Brillen der Blicke (Internet 1): Canon, Mikroskop- und Minikamera, Rohrleitung-Kamera.

Ergebnis? Fragen!

1.8.2022. Ich hadere. Ich hadere mit unerforschtem Gebiet. Ich hadere damit, ob ich dieses Hadern offenlegen soll, schließlich ist das hier eine offizielle Website und Scheitern ist immer noch ein »Don’t«, vor allem in der Kunstwelt. Obwohl ich meine Residenz definitiv nicht als Scheitern bezeichnen würde, eher als Suche ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Warum? Weil ich nichts ästhetisch Ansprechendes gefunden habe. Und dann frage ich mich wiederum:

Wie viel von dem, was ich als ästhetisch ansprechend empfinde, ist erlernt und dann doch wieder Teil einer patriarchalen Ordnung?

Video 1: Blick meiner Körpermitte mit Mini-Überwachungskamera.


Im Folgenden gebe ich einen nicht chronologischen, tagebuchartigen Einblick in meine Residenz und in meine Gedanken.

Gedankengang: Verhinderungen, Lektüre, Abschweifungen

Die Lieferzeit der Mini-Kameras, die eigentlich als Überwachungskameras eingesetzt werden, stellt sich als unbestimmbar lange heraus. Ich intensiviere meine Literaturrecherche:

Gedanklicher Startpunkt und zentral für mein Vorgehen war der kurze Text mit dem langen Titel »Pornotopische Techniken des Betrachtens – Gustave Corbets ›L’origine du monde‹ (1866) und der Penetrationskonflikt der Zentralperspektive« von Linda Hentschel, 2002. Laut der Autorin gleicht das Blicken auf ein Bild mit Zentralperspektive dem Akt des Penetrierens. Der Gedanke bestärkt mich darin, nach alternativen Bildperspektiven zu suchen, nach Gegenentwürfen zu Sehgewohnheiten, die über Jahrhunderte von Männern geprägt wurden. Auch warf dieser Text Fragen in mir auf:

Inwieweit ist das Kamerabild mit der Zentralperspektive vergleichbar? Wie verzerrt die Linse das Abgebildete? Ist ein Kamerabild automatisch zentralperspektivisch? Gibt es Alternativen? Soll ich versuchen, eine eigene Kamera zu bauen? Und was ist meine Haltung zu ihrer These?

Ich bin krank. Das erste Mal Corona. Nicht so schlimm, aber mit langer Müdigkeitsphase. Gedanken sind on hold. Kameras sind immer noch nicht da, ein weiteres bestelltes Buch von Linda Hentschel auch nicht.

Video 2: Blick meines Anus mit Mikroskop-Kamera.

»Denn es gibt Bilder, die in den visuellen Kulturen westlich sozialisierter Subjekte keinen bereits definierten Ort markieren, die nicht in einem intellektuellen Akt einfach angenommen oder abgelehnt werden können, wo weder Hin- noch Wegschauen eine stabile Position versprechen.«

Hentschel 2021, S. 75

In ihrem Essay »Bilder als Waffen?« schreibt Linda Hentschel über Bilder, die (mediale) Gewalt zeigen. In dem Zitat klingt ihr Verständnis zur Wirkmacht von Bildern an, das mich an Juliane Rebentischs These in »Ästhetik der Installation« denken lässt. Laut Rebentisch ist diese Destabilisierung der Rezeptionsposition, diese Entfremdung und Verunsicherung des gesellschaftlich konstruierten Subjekts, Auslöser für eine ästhetische Erfahrung (vgl. Rebentisch 2018; Anmerkung: in der westlich sozialisierten Welt), denn »Im Schauen sind wir […] zugleich Angeblickte« (Hentschel 2021, S. 79). In dieser Ent-rückung kann eine Reflexion über Gesehenes und die eigene Position stattfinden.

Der Essay ermöglicht mir, meine Zielsetzung zu schärfen: Bilder zu finden, die destabilisieren, die Betrachtende und Bild aus der klassischen Subjekt-Objekt-Konstitution heraus- und in eine Begegnung hineinbringen.

Wie kann ich das im Video Eingefangene also zum Blickenden machen? Oder wie kann ich durch eine andere Form der Videopräsentation die Anschau-Situation verändern – und so das Bild ent-objektifizieren und die Person ent-subjektifizieren?

Video 3: Blick meiner linken Brustwarze.

Die Mini-Kameras sind jetzt da, aber es funktioniert nur eine richtig. Der Rückgabeprozess dauert bis heute an, die Firma ist pleite und bittet mich, die Ware nicht zurückzusenden und stattdessen eine Rückerstattung von 50% zu akzeptieren.

Camera obscura (Internet 2).

Angeregt durch Bruno Latours Gedanken, dass Geräte immer auch Akteure sind, die unseren Blick auf die Welt beeinflussen, untersuche ich den Akteur Kamera genauer. Ich schaue mir Videos zu der Geschichte von Leica an, vereinbare einen Termin für eine Archivtour in ihrem Museum, möchte die Erfindung der Kamera erforschen, dahingehend untersuchen, wie der Blick durch eine Kamera gelenkt wird. Der Termin findet leider nicht zum angegebenen Zeitpunkt statt.

Ich recherchiere zur Funktionsweise einer Linse, lerne den Unterschied zwischen Konvex- und Konkavlinse (nochmal, Physik 7. Klasse), denke über einen installativen Raum als Camera Obscura nach und beschließe, dass ich eine dahingehende technische Recherche erstmal unterlasse, da ja unser Auge auch eine Konvexlinse ist. Ich würde nach dieser Recherche behaupten, ein Kamerabild ist nicht per se zentralperspektivisch und gleichzeitig schon, weil die Kameralinse, genau wie unser Auge, Lichtstrahlen bündelt.

Welche Kamera bringt welche Optik oder Verzerrung mit sich? Kann ich durch Spiel mit Schärfe und Unschärfe ein Blicken und Anblicken ent-rücken? Welche anderen Perspektiven von Akteuren außerhalb meines Körpers könnte ich noch einfangen? Zum Beispiel die einer Pflanze?

Video 4: Blicke von Bauchnabel und Vulva.

Die Endoskop-Kamera (für Rohrreinigung und Motorreparatur gedacht) ist da. Erstes Ausprobieren mit Perspektive meiner Vulva. Freundin konstatiert nachdem sie folgendes Video sah: Sie finde, die Vulva hätte viel Humor und manchmal sei sie auch ein Schlitzohr.

Blick meiner Vulva beim Laufen mit löchriger Unterhose, Pinkeln und Masturbieren.

Ich warte immer noch auf die Mini-Überwachungskameras. Derweil lese ich »Getting Down Off the Beanstalk: The Presence of a Woman’s Voice in Janika Vandervelde’s Genesis II« (McClary 2002). Exposition, erregendes Moment, Höhepunkt, retardierendes Moment, Katastrophe/Lösung, Begriffe aus der Dramentheorie – sind auch nicht so weit davon entfernt. Mir fällt ein vor langer Zeit gehörter Kommentar ein, dass japanische Langflm-Animes ganz andere Erzählstrukturen verwenden. Das ist schon der zweite Text, der strukturelle Techniken in der Kunstproduktion mit dem (männlichen) Sexualakt verbindet. 

Wie eng sind Kunst und Sexualität verschlungen? Worin äußert sich die patriarchale Prägung in meiner Sexualität? Wie können andere Dramaturgien aussehen, sich anfühlen? Wie sehr benutze ich »intuitiv« beim Schneiden von Video trotzdem das gewohnte Rhythmusgefühl von Verzögerung und Ekstase? Wie können mehrer Höhepunkte aneinandergereiht werden ohne, dass ich ungeduldig werde?

Lektüre von »The feminist pornscapes – on feminist dramturgical thinking in dance and performance practice«. Es ist eher die Beschreibung einer Praxis. Ich nehme daraus die Begrife »tantric dramaturgies« und »dramaturgy as landscape« als innere Bilder ohne konkrete Ausführung vor Augen mit sowie die Frage »What stayed vivid?« (vgl. Dubljević 2021). Die Videoausschnitte können als Antwort auf diese Frage betrachtet werden.

Video 6: Blick der unerreichbaren Stelle zwischen den Schulterblättern.

Fazit

In der Zeit der Residenz entstanden viele Gedanken und Fragen, die mich bereichern und die ich mit in meine zukünftige Arbeit nehmen werde. Die Videoarbeiten hier sehe ich eher als erste Schritte, mit denen ich erste Erkenntnisse gewinnen konnte. Ich hatte mir zu Beginn vorgestellt, dass möglichst viele Perspektiven meines Körpers, simultan abgespielt, eine interessante Eigendynamik entwickeln und mir ermöglichen würden, alltägliche Situationen neu zu betrachten.

Tatsächlich empfinde ich die Videos aber durch die Eigenbewegung des Körpers und die Ästhetiken der jeweiligen Kameras nicht als etwas, das ich gerne lange ansehen möchte oder das ich als besonders interessant empfinde – und erst recht nicht als ästhetisch an-sprechend, herausfordernd, ent-rückend. Das Ausprobieren mit den unterschiedlichen Kameras zeigte mir aber mögliche Potenziale auf, die ich über die Residenz hinaus weiterentwickele:

Ich empfand das Bild oder das Video dann als interessant, wenn ich die Perspektive, aus der gefilmt wurde, sehen oder erahnen konnte. Sei es, indem mir ein anderer Körper als Referenzpunkt Orientierung gibt (vgl. Video 4: Blicke von Bauchnabel und Vulva) oder sei es durch Spiegel, die den Blick zurückwerfen (vgl. Video 6: Blick der unerreichbaren Stelle zwischen den Schulterblättern). Mit Spiegel wird der Blick sichtbar und der*die Anblickende zum Angeblickten. Ein anderer Körper macht den filmenden Körper als blickenden Körper wahrnehmbar. In beiden Fällen wird der blickende Körper seinem Objektstatus für einen kurzen Moment enthoben.

Wie ist es, wenn sich Körper gegenseitig filmen?
Das werde ich herausfinden.

Mir war im Vorhinein bewusst, dass jede Kamera ihre eigene Ästhetik mitbringen würde. Wie sich das konkret auf die Perspektiven auswirkt, konnte ich nicht einschätzen. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass meine Fantasie und Projektion dabei ein entscheidender Faktor sind. Beim Filmen stellte ich fest, dass ich für die jeweiligen Körperstellen und Perspektiven eine Fantasie entwickelte, wie diese oder jene Körperstelle wohl in die Welt blicke. Es erfolgte ein Abgleich der Kameraästhetiken mit meiner fantasierten Perspektive der Körperteile. Ich simulierte also meine Fantasie, die sich aus dem Material Körper und Kamera speiste – ein Vorgang, der sehr an das Bespielen von Material im Figurentheater denken lässt.

Eine hierfür interessante Beobachtung: Körperteile, die in irgendeiner Form sexualisiert oder gesellschaflich tabuisiert sind (Vulva, Anus), und Körperstellen, die ich (im Spiegel) sehen kann und tagtäglich öfter sehe (Bauchnabel, Knie), regen meine Fantasie mehr an als zum Beispiel mein Hinterkopf oder meine unerreichbare Stelle zwischen den Schulterblättern. Es fällt mir leichter, diese für mich präsenteren Körperteile oder -stellen zu personifzieren und mir dadurch vorzustellen, welches Verhältnis von Perspektive und Schärfe oder Unschärfe ich für sie »simulieren« könnte, welche Kameraoptik »geeignet« wäre.

Wie also Subjekt und Objektkonstitution beim Schauen enthebeln und dadurch eine ästhetische Erfahrung ermöglichen, ästhetisch an-sprechen?

Indem ich Perspektive verorte: Spiegel oder Kameras und Körper, die sich gegenseitig anblicken, sind Möglichkeiten innerhalb des Bildes, die das aufgenommene Objekt aus dem Bild heraus zurückblicken lassen.

Eine weitere Möglichkeit dafür wäre eine Form der Präsentation, die Betrachtende in Positionen bringt, die sie selbst zum Objekt machen oder die ihnen ermöglicht, sich in die jeweilige Perspektive einzufühlen und die Perspektive dadurch zu subjektivieren. Ich denke dabei an eine Skulptur aus kleinen Bildschirmen, die auf der realen Höhe der Akteure (ihrer eingefangenen Blicke) hängen, stehen, liegen. Das Publikum kann dadurch einerseits spekulieren, welche Perspektive sie gerade sehen, andererseits wird es in körperliche Positionen gebracht, die eine ungewöhnliche, mitunter ausliefernde, objektivierende Rezeptionsposition erfordern. Die Perspektive der Vulva würde zum Beispiel auf einem Bildschirm gezeigt, der auf ihrer Raumhöhe und mit der Bildfläche Richtung Boden hängt. Eine Matte lädt ein, sich darunter zu legen.

Ausblick

Ich träume davon, diesen Fragen weiter nachzugehen. Ich träume davon, in japanischen Animes nach alternativen Dramaturgien zu forschen und mich von dramaturgy as landscapes und tantric dramaturgy inspirieren zu lassen. Ich träume von einer skulpturalen Video-Installation. Ich träume von einer Bildästhetik, die ich noch nicht gefunden habe.


Anna Renner arbeitet seit dem Abschluss ihres Regiestudiums 2018 an der Akademie für Darstellende Kunst als Kollektivmitglied, Regisseurin oder Dramaturgin mit Künstler*innen aus unterschiedlichen performativen Sparten in Deutschland und der Schweiz zusammen. Ihr Interesse liegt im Bereich Tanz, Performance und Figurenspiel. Sie entwickelte Stücke für Menschen ab 5, 7, 10 oder 14 Jahren. Im Rahmen ihres MA-Studiums in Angewandter Theaterwissenschaft in Gießen erarbeitete sie auch Installationen und performt seither auf der Bühne.

Auswahl an Arbeiten 2022-2018: Über Tabus des Frau- und Mutter-Seins: MUTTERWERK (Konzept, Ausführung), 2022 in Frankfurt am Main, Darmstadt, u. a. | Über einen Mann, der den Kopf verliert: Herr Binggeli, was nun? (Regie) seit 2021 in Basel, Berlin, u. a.│Über Barbie und Feminismus: komplex! (Dramaturgie, Spiel), ab 2022 in Stuttgart, Würzburg, u. a.│Über die Schwierigkeit des Friedens: Unconscious Collections – What about Bosnia? (Dramaturgie), 2018/19 in Berlin, Sarajevo, u. a.


Literatur/Quellen:

Dubljević, Ana (2021): The Feminist Pornscapes – on feminist dramaturgical thinking in dance and performance practice. Belgrad station service for contamporary dance.

Hentschel, Linda (2002): Pornotopische Techniken des Betrachtens – Gustave Corbets »L’origine du monde« (1866) und der Penetrationskonflikt der Zentralperspektive. In: Körper und Repräsentation, herausgegeben von Insa Härtel, S. 63–71. Opladen: Leske + Budrich.

Hentschel, Linda (2021): Bilder als Waffen? In: Die Handlungsmacht ästhetischer Objekte, herausgegeben von Annika Schlitte, Markus Verne und Gregor Wedekind, S. 73–86. Berlin: DeGruyter.

Internet 1: zuletzt aufgerufen am 2.8.2022, Canon, Mikroskop-Kamera, Endoskop-Kamera, Mini-Kamera (Bild ist vom Bildschirm abfotografiert).

Internet 2: zuletzt aufgerufen am 2.8.2022, Camera obscura.

McClary, Susan (2002): Feminine endings: music, gender, & sexuality. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Rebentisch, Juliane (2018): Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.